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Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Waters
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Kinderschlafzimmer, blieb dort reglos stehen und lauschte erwartungsvoll in die Stille. Ich dachte an das tote Kind, Susan; ich dachte an meine Mutter; tausend düstere Dinge kamen mir in den Sinn. Ich hielt den Atem an und wartete fast inständig darauf, dass irgendetwas passierte, dass irgendjemand oder irgendetwas sich mir zeigte. Doch nichts geschah. Das Haus blieb totenstill und kühl, das Zimmer wirkte düster und trostlos – aber völlig unbelebt.
    Eine Erklärung zog ich allerdings durchaus in Betracht: dass irgendjemand die ganze Angelegenheit in Szene gesetzt hatte, um Mrs. Ayres zu quälen; entweder als eine Art üblen Scherz oder schlicht aus Boshaftigkeit. Caroline konnte ich kaum verdächtigen, und da ich auch Mrs. Bazeley, die schließlich schon seit vor dem Kriege im Haus beschäftigt war, zu einer solchen Tat nicht fähig hielt, musste mein Verdacht wohl oder übel auf Betty fallen. Immerhin war es möglich, dass sie irgendwie für die Sache mit dem Sprachrohr verantwortlich war, und Mrs. Ayres hatte selbst erzählt, dass die Schritte im Korridor so leicht geklungen hatten wie die eines Kindes. Mrs. Bazeley zufolge war Betty zwar die ganze Zeit über bei ihr in der Eingangshalle gewesen, gleichzeitig hatte sie jedoch erwähnt, dass sie in ihrer Sorge um Mrs. Ayres die Treppe ein Stück weiter emporgestiegen sei, während Betty zurückgeblieben war. War es möglich, dass das Mädchen in der Zwischenzeit zur Dienstbotentreppe gerannt und diese rasch hinaufgelaufen war, die Kinderzimmertür verschlossen hatte und dann im Korridor auf und ab getrippelt war – alles, ohne dass Mrs. Bazeley ihr Verschwinden aufgefallen wäre? Das kam mir sehr unwahrscheinlich vor. Außerdem war ich selbst über die Hintertreppe emporgestiegen und hatte mir dabei die Stufen im Licht meines Feuerzeugs genau angesehen. Sie waren mit einer dünnen Staubschicht bedeckt, in der meine Schuhe unweigerlich Abdrücke hinterließen, doch ich war mir sicher, dass ich keine weiteren Fußspuren gesehen hatte, weder von leichten noch schweren Tritten. Im Übrigen war mir Bettys Kummer über den Vorfall ziemlich aufrichtig erschienen; ich wusste, dass sie ihre Dienstherrin gernhatte. Und nicht zuletzt sprach Mrs. Ayres’ eigene Aussage gegen eine Beteiligung Bettys, denn sie hatte das Mädchen zusammen mit Mrs. Ayres draußen vor dem Haus gesehen, noch während die Geräusche aus dem Sprachrohr kamen.
    All das ging mir durch den Kopf, während ich mich in dem trostlosen Zimmer umschaute; doch bald wurde die bedrückende Atmosphäre dieses Ortes zu viel für mich. Ich befeuchtete mein Taschentuch am Waschbecken und wischte die schlimmsten Blutflecken weg. Ich fand ein paar lose Linoleumstücke und bemühte mich, damit die zerbrochenen Fenster notdürftig abzudichten. Dann ging ich düsteren Gemüts über die Haupttreppe nach unten. Auf der Empore des ersten Stocks begegnete ich Caroline, die gerade aus dem Schlafzimmer ihrer Mutter kam. Sie legte den Finger an die Lippen, und wir gingen schweigend weiter zum kleinen Salon. Nachdem wir die Tür hinter uns geschlossen hatten, fragte ich: »Wie geht es ihr?«
    Caroline fröstelte. »Sie schläft. Ich dachte, ich hätte sie rufen gehört, nur deshalb bin ich hineingegangen. Ich wollte nicht, dass sie aufwacht und Angst bekommt.«
    »Das Veronal sollte eigentlich dafür sorgen, dass sie einige Stunden fest schläft«, sagte ich. »Komm, setz dich doch ans Feuer. Du frierst ja. Und ich übrigens auch.«
    Ich führte sie zum Kamin, rückte die Sessel dicht davor, und wir setzten uns. Ich stützte die Ellenbogen auf die Knie und rieb mir erschöpft die Augen.
    »Du bist oben gewesen«, stellte sie fest.
    Ich nickte und starrte sie müde an. »Ach, Caroline, dieses schreckliche Zimmer da oben! Es sieht dort aus wie in der Zelle eines Wahnsinnigen! Ich habe die Tür abgeschlossen. Ich denke, du solltest das Zimmer von nun an auch lieber verschlossen halten. Geh bloß nicht dort hinauf!«
    Sie wandte den Blick ab und starrte ins Feuer. »Noch ein Zimmer, das dichtgemacht wird«, sagte sie.
    Ich rieb mir immer noch die brennenden Augen. »Nun, das sollte im Moment unsere geringste Sorge sein. Wir sollten uns lieber Gedanken über deine Mutter machen. Ich kann einfach nicht glauben, wie das passieren konnte. Du etwa? War sie denn heute Morgen genau wie sonst auch?«
    Ohne den Blick vom Feuer abzuwenden, erwiderte sie: »Sie war auch nicht anders als gestern, wenn du das meinst.«
    »Hat sie denn gut

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