Der Besucher - Roman
Bodendielen waren staubbedeckt, die verblichene Tapete an den Wänden mit Feuchtigkeitsflecken übersät. Vor den vergitterten Sprossenfenstern hing noch ein vergessener Satz Verdunkelungsvorhänge, den die Sonne indigoblau ausgeblichen hatte. Der altertümliche Kamin war sauber gekehrt, doch das Kamingitter aus Messing zeigte zahlreiche Rußflecken dort, wo Regenwasser durch den Schacht gedrungen war; eine Ecke des Kaminsimses war abgebrochen und blasser Gips leuchtete hervor wie der Schmelz bei einem frisch abgesplitterten Zahn. Doch da, gleich neben dem Kaminvorsprung, hing das Sprachrohr, genau wie Mrs. Ayres es noch in Erinnerung hatte. Es endete auf diesem Stockwerk in einem kurzen Geflechtschlauch mit einem weiteren angelaufenen Trichter. Sie lief hinüber, hob die Sprechmuschel an und nahm die Pfeife heraus. Sofort strömte ein unangenehmer, muffiger Geruch aus der Öffnung – so ähnlich wie schlechter Atem, sagte sie später, und während sie den Trichter an ihr Ohr hob, wurde sie sich auf unangenehme Weise der zahllosen Lippen bewusst, die sich im Laufe der Jahre dagegengepresst hatten … Wie auch zuvor hörte sie nichts, bis auf das gedämpfte Rauschen ihres eigenen Blutes. Sie lauschte beinahe eine Minute lang und hielt sich die Muschel in den verschiedensten Winkeln ans Ohr. Dann steckte sie die Pfeife wieder zurück, ließ das Rohr sinken und wischte sich die Hände ab.
Ihr wurde bewusst, dass sie enttäuscht war – schrecklich enttäuscht sogar. Nichts an diesem Zimmer schien sie willkommen zu heißen: Sie blickte sich um und versuchte einen Hinweis auf das lebendige Treiben zu finden, das sich in diesem Kinderzimmer abgespielt hatte, doch es gab keine Spur mehr von den sentimentalen Bildern, die an den Wänden gehangen hatten, oder von irgendetwas anderem. Es fanden sich lediglich schäbige, schmuddlige Erinnerungen an die Belagerung durch die Soldaten: Schmutzränder und Kratzer; Brandflecken von Zigaretten; Schrammen an den Fußbodenleisten. Und an den Fensterbänken klebten hässliche graue Kaugummireste, wie sie feststellten musste, als sie an eines der Fenster trat. Vor den undichten Fensterrahmen, war es bitterkalt, dennoch blieb sie einen Augenblick stehen und blickte über den Park, fasziniert von der Höhe und der Perspektive, die sich ihr auf die Bauarbeiten in der Ferne bot. Dort, weit hinten, konnte sie auch Carolines Gestalt ausmachen, die sich gerade auf den Rückweg Richtung Herrenhaus machte. Der Anblick ihrer groß gewachsenen, exzentrisch aussehenden Tochter, die ihren einsamen Weg durch den Park ging, stimmte Mrs. Ayres noch trübseliger als zuvor, und nachdem sie Caroline einen Moment beobachtet hatte, trat sie wieder vom Fenster weg. Zu ihrer Linken lag eine weitere Tür, die ins Nachbarzimmer führte, das ehemalige Kinderschlafzimmer. Das war das Zimmer, in dem ihre erste Tochter gelegen hatte, als sie an der Diphtherie erkrankt war; das Zimmer, in dem sie auch gestorben war. Die Tür war angelehnt. Mrs. Ayres konnte der düsteren Versuchung nicht widerstehen, sie ganz aufzustoßen und hineinzugehen.
Doch auch hier war nur wenig, an das sie sich erinnern konnte, das Zimmer wirkte abgenutzt und verwahrlost. Ein paar Fensterscheiben waren zerbrochen, der Sprossenrahmen bröselte vor sich hin. Aus einem Handwaschbecken in der Ecke drang ein scharfer Geruch nach Urin, und dort, wo das Wasser aus dem undichten Hahn hingetropft war, faulten die Bodendielen. Sie ging hinüber, um sich den Schaden näher anzuschauen. Beim Bücken stützte sie sich mit einer Hand an der Wand ab. Die Tapete hatte ein Strukturmuster aus Spiralen und Arabesken und war früher einmal leuchtend bunt gewesen, wie sie sich plötzlich erinnerte. Doch mittlerweile war sie mit einer tristen Farbe überstrichen worden, die sich durch die Feuchtigkeit in eine quarkähnliche Pampe verwandelt hatte. Angeekelt blickte Mrs. Ayres auf die Flecken an ihren Fingern, richtete sich wieder auf und versuchte die Farbe von ihren Händen zu reiben. Inzwischen bereute sie es, das Zimmer betreten zu haben – sie bereute, dass sie überhaupt in dieses Stockwerk gekommen war. Sie trat zum Waschbecken, drehte den Hahn auf und ließ sich das eiskalte Wasser, das stoßweise aus dem Hahn spritzte, über die Hände laufen. Dann wischte sie sich die Finger an ihrem Rock ab und wollte den Raum wieder verlassen.
In dem Moment spürte sie eine Art Luftzug – ein kalter Hauch berührte sie an der Wange, zauste ihr Haar und ließ sie
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