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Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Waters
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hervorzubringen.
    Da ließ Mrs. Ayres von Grauen erfüllt das Sprachrohr fallen und rannte zur Tür. Nun war es ihr egal, was sich auf der anderen Seite befinden mochte; sie hämmerte gegen das Holz und schrie verzweifelt nach Mrs. Bazeley, und als keine Antwort kam, wankte sie in Panik durchs Kinderzimmer zu einem der vergitterten Fenster und zerrte an der Verriegelung. Zu diesem Zeitpunkt weinte sie längst vor Angst, und die Tränen trübten ihr den Blick. In ihrer Panik hatte sie wohl auch ihre Körperkraft und ihren praktischen Verstand verloren, denn die Verriegelung war eigentlich ganz einfach und leicht zu lösen, doch irgendwie schnitt sie sich in die Finger und schaffte es nicht, sie zu öffnen.
    Aber dort unten war Caroline, die energischen Schrittes über den Rasen kam und die Stufen zur südwestlichen Terrasse emporstieg, und als Mrs. Ayres ihre Tochter erblickte, ließ sie von der Verriegelung ab und hämmerte stattdessen gegen die Scheiben. Sie sah, wie ihre Tochter innehielt, den Kopf hob und sich suchend umblickte. Offenbar hörte sie das Geräusch, war aber nicht in der Lage festzustellen, woher es kam. Im nächsten Moment sah Mrs. Ayres zu ihrer unendlichen Erleichterung, wie Caroline erkennend die Hand zum Gruß hob. Erst dann sah sie genauer, in welche Richtung Caroline schaute, und ihr ging auf, dass sie keineswegs zum Kinderzimmerfester hinaufblickte, sondern geradeaus, über die Terrasse hinweg. Während Mrs. Ayres sich dichter an die Scheibe presste, konnte sie eine untersetzte weibliche Gestalt ausmachen, die über den Kies gelaufen kam, und erkannte in ihr Mrs. Bazeley. Sie sah, wie diese Caroline oben auf der Terrassentreppe in Empfang nahm und hektische, ängstliche Handbewegungen in Richtung des Hauses machte. Gleich darauf kam auch Betty über die Terrasse gerannt und winkte die beiden aufgeregt zum Haus weiter … Während dieser ganzen Zeit war aus dem freiliegenden Mundstück weiter das herzzerreißende Flüstern erklungen. Als Mrs. Ayres nun die drei Frauen unter sich sah, wurde ihr klar, dass sie in diesem riesigen Haus ganz allein war mit jener schwachen, aber fordernden Gegenwart am anderen Ende des Rohres.
    In diesem Augenblick schlug ihre Panik in Hysterie um. Sie hob die Fäuste und trommelte gegen das Fenster – und zwei der dünnen, alten Scheiben zerbrachen unter ihren Händen. Als Caroline, Mrs. Bazeley und Betty das Glas zerspringen hörten, blickten sie erstaunt nach oben und entdeckten Mrs. Ayres, die schreiend hinter den vergitterten Fenstern stand – kreischend wie ein Kind, wie Mrs. Bazeley sagte – und mit den Händen gegen die Glasscherben im Rahmen schlug.
    Was mit ihr in der Zeit geschah, die die Frauen brauchten, um vollkommen verängstigt zum Kinderzimmer hinaufzustolpern, konnte hinterher niemand sagen. Sie fanden die Tür zum Zimmer angelehnt, das Sprachrohr stumm; die Elfenbeinpfeife steckte wieder ordentlich in der Muschel. Mrs. Ayres kauerte starr in einer Ecke des Zimmers und war praktisch ohne Bewusstsein. Sie blutete stark aus den Schnitten an Händen und Armen; daher bemühten sich die drei nach Kräften, ihre Wunden rasch zu verbinden, und zerrissen eines von Mrs. Ayres’ Seidentüchern, um daraus Verbandsmaterial zu gewinnen. Sie richteten Mrs. Ayres auf und führten sie halb, halb trugen sie sie nach unten in ihr Schlafzimmer. Dort flößten sie ihr Brandy ein und versuchten sie wieder aufzuwärmen, indem sie das Feuer im Kamin schürten und eine Decke nach der anderen um sie hüllten, denn inzwischen zitterte sie in ihrem Schock am ganzen Körper.
    Als ich sie etwa eine Stunde später sah, zitterte sie noch immer.
    Ich war gerade bei einem Patienten gewesen, einem Privatpatienten, der glücklicherweise über ein Telefon verfügte, so dass das Mädchen in der Vermittlung Caroline dorthin weiterverbinden konnte, als diese in meiner Praxis anrief und dringend darum bat, ich möge auf meinem Heimweg in Hundreds Hall vorbeifahren. Ich fuhr zum Herrenhaus, so schnell ich konnte, ohne zu ahnen, was mich dort erwartete. Ich war völlig verstört, das Haus in einem solchen Zustand vorzufinden. Betty kam mir mit kalkweißem Gesicht entgegen und führte mich zu Mrs. Ayres; diese saß mit Caroline an ihrer Seite gebeugt und zitternd in ihrem Zimmer. Bei der geringsten unerwarteten Bewegung zuckte sie zusammen wie ein gejagtes Kaninchen, und als ich sie so sah, stockte ich zunächst entsetzt. Ihr Gesichtsausdruck war dermaßen gehetzt, dass sie an ihren

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