Der Besucher - Roman
schaudern –, und gleich darauf ertönte im Nebenzimmer ein heftiger Knall, der sie zu Tode erschrocken zusammenfahren ließ. Zwar war ihr sofort klar, dass es sich nur um die Tür handeln konnte, die sie vorhin aufgeschlossen und offen stehen gelassen hatte und die nun von einem Luftzug aus den undichten Fenstern zugefallen war. Dennoch hatte sie der laute Knall in dem leeren, stillen Raum so unvorbereitet getroffen, dass sie einen Augenblick brauchte, um sich von ihrem Schrecken zu erholen und darauf zu warten, dass ihr klopfendes Herz sich wieder beruhigte. Mit leicht zitternden Gliedern ging sie zurück in das Spielzimmer, und wie nicht anders erwartet, war die Tür zugefallen. Sie griff nach dem Knauf, doch die Tür ließ sich nicht öffnen.
Einen Moment lang stand sie fassungslos da. Sie drehte den Türgriff erfolglos nach rechts und links und nahm bestürzt an, dass der Vierkantstift gebrochen sein musste und das heftige Zufallen der Tür den Mechanismus irgendwie beschädigt hatte. Doch das Schloss war ein altmodisches Kastenschloss, das man auf die Tür montiert und überstrichen hatte; zwischen dem Schloss und dem Schließblech klaffte wie üblich ein kleiner Spalt, und als sie sich bückte und hineinspähte, konnte sie erkennen, dass die Falle sich ganz normal betätigen ließ, aber der Riegel des Schlosses herausragte, gerade so als sei der Schlüssel auf der anderen Seite absichtlich herumgedreht worden. Konnte das durch einen Windzug verursacht worden sein? Konnte eine heftig zuschlagende Tür sich selbst verschließen? Wohl kaum. Ein ungutes Gefühl überkam Mrs. Ayres. Sie ging wieder zurück ins Kinderschlafzimmer und versuchte die Tür dort zu öffnen. Sie war ebenfalls verschlossen, aber das war auch nicht anders zu erwarten gewesen, denn alle Türen auf diesem Stockwerk waren fest verschlossen worden, um die Kälte abzuhalten.
Also kehrte sie wieder zur ersten Tür zurück und versuchte es noch einmal – diesmal kämpfte sie damit, die Geduld und die Nerven zu bewahren. Sie versuchte sich einzureden, dass das verdammte Ding keinesfalls verschlossen sein konnte; dass es mit Sicherheit nur verzogen war, genau wie sich viele andere Türen auf Hundreds verzogen hatten und in ihren Rahmen klemmten. Doch diese Tür hatte sich kurz zuvor noch ganz leicht öffnen lassen, und als Mrs. Ayres noch einmal in den Spalt zwischen Schloss und Schließblech spähte, sah sie wieder den eingerasteten Riegel, der selbst im Dämmerlicht deutlich zu erkennen war. Als sie das Auge ans Schlüsselloch legte, konnte sie sogar das gerundete Ende des Schlüsselschafts sehen. Sie überlegte, ob es irgendeine Möglichkeit gäbe, ihn zu bewegen, vielleicht mithilfe einer Haarnadel. Nach wie vor nahm sie an, dass die Tür sich irgendwie, auf seltsame Art und Weise, selbst verschlossen hatte.
Dann hörte sie etwas. Über die Stille hinweg erklang ziemlich deutlich das leise Geräusch rascher Schritte. Und dann nahm sie durch den schmalen Spalt des Schlüssellochs eine Bewegung wahr. Das trübe, milchige Licht verdunkelte sich für einen Moment, so als sei draußen im Flur irgendjemand oder irgendetwas von links nach rechts vorbeigegangen, also von der Hintertreppe am Nordwestende kommend durch den Flur des Kinderzimmertrakts gelaufen. Da sie vernünftigerweise annahm, dass es sich bei dieser Person nur um Mrs. Bazeley oder Betty handeln konnte, war sie zunächst erleichtert. Sie richtete sich wieder auf, klopfte gegen die Tür und rief: »Wer ist da? Mrs. Bazeley? Betty? Betty, bist du das? Wer auch immer da ist, ihr habt mich eingeschlossen! Irgendjemand hat mich hier eingeschlossen!« Sie rüttelte an der Klinke. »Hallo! Hört mich jemand?«
Zu ihrer Verwirrung antwortete niemand, und es kam auch niemand; stattdessen wurden die Schritte immer leiser. Mrs. Ayres hockte sich wieder vor das Schlüsselloch und spähte hindurch, bis bald darauf, zu ihrer großen Erleichterung, die trippelnden Schritte wieder näher kamen. »Betty!«, rief sie, denn inzwischen war ihr klar geworden, dass dieses rasche, leichte Trippeln kaum von Mrs. Bazeley herrühren konnte. »Betty! Lass mich raus, Kindchen! Hörst du mich? Kannst du den Schlüssel sehen? Komm her und dreh den Schlüssel herum!« Doch zu ihrer Bestürzung fiel wieder nur ein Schatten über den Lichtspalt – diesmal von rechts kommend –, und statt vor der Tür innezuhalten, bewegten sich die Schritte nach links weiter. »Betty!«, rief sie wieder, gellender als zuvor.
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