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Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Waters
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Stunden, in denen er in der Werkstatt Tonfiguren formte; die Mahlzeiten, die Zeit der Entspannung, gemeinsame Gesangsstunden, gelegentliche Gartenarbeiten. Er sprach relativ klar und verständlich, doch seine Gesichtszüge verharrten in ihrer neuen, starren Mimik, und er schien weiterhin misstrauisch zu sein. Dann wurden Carolines Fragen zögerlicher: Ging es ihm wirklich gut? Würde er es ihr sagen, falls es ihm nicht gut ginge? Brauchte er irgendetwas? Dachte er oft an zu Hause? Daraufhin betrachtete er uns mit kaltem Argwohn im Blick.
    »Hält Dr. Warren euch denn nicht auf dem Laufenden?«
    »Doch, das tut er. Er schreibt uns jede Woche. Aber wir wollten dich sehen … Ich hatte so eine Ahnung …«
    »Was für eine Ahnung?«, fragte er rasch.
    »Dass du … vielleicht unglücklich sein könntest.«
    Das Zittern seiner Hände wurde heftiger, und sein Mund erstarrte in einer schmalen Linie. Er blieb einen Moment stocksteif sitzen, dann ruckte er abrupt vom Tisch zurück und verschränkte die Arme.
    »Ich gehe nicht zurück!«, sagte er.
    »Was?«, fragte Caroline verdutzt. Seine plötzliche Bewegung hatte sie erschreckt.
    »Falls ihr deshalb gekommen seid!«
    »Wir wollten dich doch nur sehen.«
    »Seid ihr deshalb gekommen? Um mich zurückzuholen?«
    »Nein, natürlich nicht. Aber ich hatte gehofft …«
    »Es ist nicht recht, wenn ihr deshalb gekommen seid! Ihr könnt doch jemanden nicht erst an einen solchen Ort bringen, und wenn er sich dann eingewöhnt hat … wenn er sich daran gewöhnt hat, keine Verpflichtungen mehr zu haben … dann könnt ihr ihn doch nicht wieder zurückschicken und ihn wieder der Gefahr aussetzen!«
    »Roddie, bitte!«, sagte Caroline. »Ich wünschte wirklich, du würdest wieder nach Hause zurückkommen. Das wäre mein größter Wunsch. Am liebsten wäre mir, du würdest gleich mit Dr. Faraday und mir nach Hause zurückkommen. Aber wenn du lieber hierbleiben möchtest … Wenn du hier glücklicher bist …«
    »Es geht doch gar nicht darum, wo ich glücklicher bin!«, sagte er voller Verachtung, »Es geht vielmehr darum, wo es sicherer für mich ist! Begreift ihr denn gar nichts?«
    »Roddie …«
    »Wollt ihr mir wieder die ganze Verantwortung übertragen? Ist es das? Wo doch jeder Idiot sehen kann, dass ich alles kaputt mache, was ich in die Finger bekomme!«
    »Aber so wäre es doch gar nicht«, sagte ich, als ich sah, wie erschüttert Caroline über seiner Äußerung war. »Hundreds Hall ist im Augenblick in guten Händen. Caroline kümmert sich darum, und ich helfe ihr. Sie müssten überhaupt nichts tun, was Sie nicht wollten. Wir würden alles für Sie erledigen.«
    »Oh, das ist natürlich besonders schlau!«, sagte er spöttisch, als würde er mit einer völlig fremden Person reden. »So wollt ihr mich also zurücklocken! Ihr wollt mich bloß benutzen – mich benutzen und dann hinterher für alles verantwortlich machen! Aber ich gehe nicht zurück! Ich lasse mir hinterher nicht die Schuld geben! Habt ihr verstanden?«
    »Bitte hör doch auf, so zu reden«, sagte Caroline. »Niemand will dich gegen deinen Willen zurückholen. Ich hatte nur das Gefühl, dass du vielleicht unglücklich wärest. Dass du mich sehen wolltest. Es tut mir leid … Ich … Ich habe einen Fehler gemacht.«
    »Haltet ihr mich für einen Volltrottel?«, rief er.
    »Nein.«
    »Bist du vielleicht ein Volltrottel?«
    Sie zuckte zusammen. »Ich habe mich eben getäuscht.«
    »Rod«, fing ich an. Doch eine Schwester hatte die ganze Zeit über in unserer Nähe gesessen und den Besuch aus diskreter Entfernung im Auge behalten, und als sie jetzt die veränderte Lautstärke wahrnahm, kam sie zu uns herüber.
    »Was ist denn hier los?«, fragte sie mit sanft ermahnender Stimme. »Sie wollen doch Ihre Schwester nicht aufregen, oder?«
    »Mit solchen Idioten gebe ich mich nicht ab!«, sagte Rod und blickte starr beiseite, die Arme immer noch verschränkt.
    »Und ich will hier keine Schimpfworte hören!«, sagte die Schwester streng und verschränkte ebenfalls die Arme. »Also, wollen Sie sich dann bitte jetzt entschuldigen? Nein?« Sie wippte mit dem Fuß. »Wir warten …«
    Rod sagte keinen Ton. Die Schwester schüttelte den Kopf und sagte mit einem Seitenblick auf uns mit überdeutlicher Artikulation, wie eine Erzieherin, die über ein Kleinkind redet: »Roderick ist uns hier in der Klinik ein Rätsel, Miss Ayres, Dr. Faraday. Wenn er gute Laune hat, kann er so ein netter Kerl sein, und wir Schwestern haben ihn

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