Der Besucher - Roman
Das solltest du doch wissen.«
Und genau wie zuvor verschwand auch der letzte Rest meines Ärgers über sie und verwandelte sich in Begierde. Ich zog sie an mich. Sie widerstand mir einen Moment, dann jedoch schlang sie ihre festen, schlanken Arme um mich.
»Ja«, murmelte sie müde. »Ja, das weiß ich.«
Am folgenden Sonntag fuhren wir in die Klinik, Mrs. Ayres ließen wir in Bettys Obhut zurück. Es war ein trockener, aber düsterer Tag, und auf der Fahrt herrschte begreiflicherweise eine angespannte Stimmung. Ich hatte zwar zuvor in der Klinik angerufen, um unseren Besuch anzukündigen; dennoch meinte Caroline unterwegs sicherlich ein Dutzend Mal: »Wenn er uns nun nicht sehen will?«, oder »Wenn es ihm nun schlechter geht? Wenn er uns womöglich nicht einmal wiedererkennt?«
»Dann wissen wir wenigstens Bescheid«, erwiderte ich. »Das ist doch schon mal etwas, oder?«
Schließlich schwieg sie und kaute nur noch nachdenklich auf ihren Nägeln herum. Als ich in der Auffahrt der Klinik hielt, verharrte sie einen Moment im Auto und schien nur widerwillig aussteigen zu wollen. Am Klinikeingang packte sie meinen Arm in echter Panik.
Doch dann führte eine Krankenschwester uns in den Tagesraum, wo Roderick allein an einem der Tische saß und auf uns wartete. Sofort ließ sie meinen Arm los, lief auf ihn zu und lachte, gleichermaßen nervös und erleichtert.
»Rod? Bist du’s wirklich? Ich habe dich kaum wiedererkannt. Du siehst aus wie ein Kapitän zur See!«
Er hatte zugenommen. Sein Haar war kürzer als bei unserem letzten Besuch, und er hatte sich einen rötlichen Bart wachsen lassen, der durch die Brandnarben sein Gesicht jedoch nur ungleichmäßig bedeckte. Das Gesicht hinter dem Bart schien deutlich gealtert zu sein und war von starren, unfrohen Falten geprägt. Das Lächeln seiner Schwester erwiderte er nicht. Er ließ zwar zu, dass sie ihn umarmte und ihn auf die Wange küsste, doch dann saß er steif auf der anderen Seite des Tisches und legte die Handflächen in merkwürdig absichtsvoller Weise auf der Tischplatte ab, als wolle er sich an ihrer Stabilität orientieren.
Ich setzte mich auf den Stuhl neben Caroline, »Schön, Sie zu sehen, Rod!«
»Ich freue mich so, dich zu sehen!«, sagte Caroline und lachte wieder ihr nervöses Lachen. »Wie geht es dir?«
Er fuhr sich mit der Zunge über die Zähne, als sei sein Mund trocken. Er wirkte wachsam und misstrauisch. »Mir geht’s gut.«
»Du hast ja ordentlich zugelegt! Wenigstens scheinen sie dir hier reichlich zu essen zu geben! Stimmt das? Ist das Essen okay?«
Er runzelte die Stirn. »Ich glaube schon.«
»Und freust du dich, uns zu sehen?«
Darauf erwiderte er nichts. Stattdessen blickte er zum Fenster. »Wie seid ihr hierhergekommen?«
»In Dr. Faradays Auto.«
Wieder fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen. »Der kleine Ruby!«
»Ja, genau«, sagte ich.
Er blickte mich an, immer noch argwöhnisch. »Man hat mir heute Morgen erst gesagt, dass ihr kommt!«
»Wir haben es uns auch diese Woche erst überlegt«, erwiderte Caroline.
»Ist Mutter denn nicht mitgekommen?«
Ich sah, wie Caroline mit der Antwort zögerte, und ergriff an ihrer Stelle das Wort.
»Ihre Mutter hat leider eine leichte Bronchitis bekommen, Rod. Nichts Dramatisches. Sie wird bald wieder auf dem Damm sein.«
»Sie lässt dich herzlich grüßen«, sagte Caroline fröhlich. »Es hat ihr sehr leidgetan, dass sie nicht mitkommen konnte.«
»Man hat mir heute Morgen erst mitgeteilt, dass ihr kommt!«, sagte er noch einmal vorwurfsvoll. »So sind sie hier. Sie halten alles vor uns geheim, um uns nicht zu ängstigen. Sie wollen nicht, dass wir die Nerven verlieren. Eigentlich ist es genau wie bei der Air Force.«
Er hob seine Hände kurz von der Tischplatte, und ich sah, dass sie zitterten. Offenbar hatte er sie zuvor so flach auf den Tisch gelegt, weil es ihm half, sie ruhigzuhalten. Vermutlich hatte Caroline das Zittern ebenfalls bemerkt. Sie bedeckte seine Hände mit ihren. »Wir wollten dich bloß sehen, Rod«, sagte sie. »Wir haben dich doch schon seit Monaten nicht mehr gesehen. Wir wollten uns bloß vergewissern, dass du … dass es dir gut geht.«
Er blickte stirnrunzelnd auf ihre Finger hinab, und wir schwiegen einen Moment lang. Dann stieß Caroline wieder erstaunte Rufe über seinen Bart und seine Gewichtszunahme aus. Sie erkundigte sich nach seinem Tagesablauf, und er erzählte uns mit unbeteiligter Miene, wie er jetzt seine Zeit verbrachte: die
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