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Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Waters
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alle gern. Aber wenn er einen schlechten Tag hat …« Sie schüttelte den Kopf, holte tief Luft und schnalzte missbilligend.
    Caroline sagte: »Es ist schon gut. Er braucht sich nicht zu entschuldigen, wenn er nicht will. Ich … Ich will nicht, dass er zu irgendwas gezwungen wird, was er nicht möchte.«
    Sie blickte ihren Bruder an, streckte dann wieder die Hand über den Tisch und sprach leise und demütig: »Du fehlst uns bloß so, Roddie. Mutter und ich vermissen dich sehr. Wir denken immerzu an dich. Ohne dich ist es schrecklich auf Hundreds. Ich hatte bloß gedacht, du würdest dir vielleicht auch Gedanken um uns machen. Aber jetzt sehe ich ja, dass es dir gut geht. Ich … Ich bin froh darüber.«
    Rod verharrte stur in seinem Schweigen. Doch seine Gesichtszüge verhärteten sich noch mehr, und sein Atem klang schwer und gepresst, als würde er mit Mühe und Not irgendein übermächtiges Gefühl im Zaum halten. Die Schwester trat einen Schritt näher und murmelte uns vertraulich zu: »An Ihrer Stelle würde ich ihn jetzt lieber allein lassen. Sie sollten ihn lieber nicht bei einem seiner Wutausbrüche erleben!«
    Wir hatten keine zehn Minuten mit ihm verbracht. Caroline erhob sich nur widerwillig und schien nicht glauben zu wollen, dass ihr Bruder uns ohne ein Wort oder einen Blick gehen lassen würde. Doch er wandte sich nicht mehr zu uns um, und schließlich mussten wir ihn sich selbst überlassen. Caroline ging schon vor zum Auto, während ich noch kurz mit Dr. Warren sprach, und als ich zu ihr in den Wagen stieg, waren ihre Augen rot, aber trocken: Sie hatte wohl geweint, aber die Tränen abgetupft.
    Ich nahm ihre Hand. »Es tut mir so leid, das war bitter!«
    Doch sie sprach mit tonloser Stimme: »Nein. Wir hätten nicht kommen sollen. Ich hätte auf dich hören sollen. Es war dumm von mir, zu glauben, dass wir hier irgendetwas finden würden. Da ist nichts, oder? Gar nichts. Es ist genau, wie du gesagt hast.«
    Wir traten die lange Heimfahrt nach Hundreds an. Ich legte den Arm um sie, wann immer es mir beim Fahren möglich war. Sie ließ die Hände willenlos im Schoß liegen, und ihr Kopf sank bei jeder Kurve schlaff an meine Schulter, als hätte sie in ihrer Enttäuschung all ihre Lebendigkeit und Widerstandskraft eingebüßt.
     
    Natürlich wirkten sich die letzten Erlebnisse nicht gerade förderlich auf die Romantik aus, und unsere Beziehung kümmerte vor sich hin. Ich war enttäuscht über diese Entwicklung, machte mir Sorgen um Caroline und um Hundreds und fühlte mich alles in allem ziemlich belastet und unruhig. Ich schlief schlecht und litt unter wirren Träumen. Ein paarmal kam mir der Gedanke, mich Graham und Anne anzuvertrauen. Doch es war schon etliche Wochen her, seit ich richtig Zeit mit ihnen verbracht hatte; ich hatte den Eindruck, sie könnten möglicherweise ein wenig gekränkt sein, dass ich sie so vernachlässigt hatte, und wollte in meiner momentanen Misserfolgsstimmung nicht zu ihnen angekrochen kommen. Schließlich begann sogar meine Arbeit zu leiden. An einem der Abende, die ich im Krankenhaus verbrachte, assistierte ich bei irgendeiner kleinen Routine- OP und verrichtete meine Aufgabe so schlecht, dass der verantwortliche Arzt über mich lachte und die Arbeit selbst zu Ende brachte.
    Zufällig handelte es sich bei besagtem Arzt um Seeley. Als wir hinterher noch beisammenstanden und uns die Hände wuschen, entschuldigte ich mich für mein zerstreutes Verhalten. Er reagierte mit gewohnter Umgänglichkeit:
    »Ist doch nicht schlimm. Sie sehen erschöpft aus! Ich weiß selbst, wie das ist. Zu viele nächtliche Notfälle, nehme ich an. Und das schlechte Wetter macht es auch nicht besser!«
    »Ja, das Wetter ist wirklich schlimm«, erwiderte ich.
    Ich wandte mich ab, spürte jedoch, dass sein Blick immer noch auf mir ruhte. Wir gingen in den Aufenthaltsraum, um unsere Mäntel zu holen, und als ich mein Jackett vom Haken nahm, glitt es mir irgendwie aus der Hand, und dabei entleerte sich der Inhalt der Taschen auf den Boden. Ich fluchte und bückte mich, um die Sachen wieder aufzuheben, und als ich mich wieder aufrichtete, sah ich, dass Seeley mich eindringlich betrachtete.
    »Sie sind anscheinend wirklich nicht gut beieinander!«, sagte er mit einem Lächeln. Dann senkte er die Stimme. »Was ist denn los? Probleme mit einem Patienten? Oder haben Sie selbst welche? – Verzeihen Sie, wenn ich nachfrage.«
    »Nein, schon gut«, erwiderte ich. »Patientengeschichten. Aber mich betrifft

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