Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Waters
Vom Netzwerk:
müssen, wie bei den katholischen Priestern. Da würden wahrscheinlich alle von profitieren.«
    »Das glauben Sie doch selbst nicht!«, sagte ich und zog an meiner Zigarette. »Außerdem: Wenn das stimmen würde, dann müsste ich doch ein leuchtendes Beispiel unserer Zunft abgeben!«
    »Ja, das sind Sie doch auch. Sie sind ein viel besserer Arzt als ich. Außerdem war Ihr Weg viel steiniger als der meine.«
    Ich zuckte mit den Schultern. »Heute Abend habe ich aber kein besonders leuchtendes Beispiel abgegeben.«
    »Ach, das war doch bloß Routinearbeit. Wenn es wirklich hart auf hart kommt, dann entfalten Sie Ihre wahren Fähigkeiten. Und Sie haben doch selbst gesagt, dass Sie etwas auf dem Herzen haben … Wollen Sie darüber reden? Ich möchte mich natürlich weiß Gott nicht aufdrängen. Ich weiß nur, dass es manchmal hilfreich ist, wenn man einen schweren Fall mit einem Kollegen durchsprechen kann.«
    Er sprach locker, aber dennoch aufrichtig, und die leichte Abneigung, die ich empfunden hatte – eine Abneigung gegenüber seinem unbedarften Charme, dem unaufgeräumtem Haus und seiner hübschen Familie –, schwand dahin. Vielleicht war es auch bloß eine Folge des Whiskys oder der Wärme des Feuers. Das Zimmer bildete einen so großen Gegensatz zu meinem tristen Junggesellenhaushalt – und auch einen Gegensatz zu Hundreds Hall, wie mir plötzlich aufging. Ich sah Caroline und ihre Mutter vor mir, wie sie wahrscheinlich zu dieser abendlichen Stunde frierend und unruhig inmitten des dunklen, unseligen Hauses hockten.
    Ich drehte mein Whiskyglas in der Hand. »Womöglich können Sie sich schon denken, was mein Problem ist, Seeley«, sagte ich. »Zumindest teilweise.«
    Ich blickte nicht auf, sah aber, wie er sein Glas hob. Er trank einen Schluck und sagte dann leise: »Sie meinen Caroline Ayres? Ich dachte mir schon, dass es etwas in der Richtung sein würde. Dann haben Sie den Ratschlag wohl beherzigt, den ich Ihnen auf dem Ball gegeben habe?«
    Ich rutschte unbehaglich auf meinem Sessel hin und her, doch ehe ich antworten konnte, fuhr er schon fort: »Ich weiß, ich weiß: Ich war an dem Abend ziemlich betrunken – und reichlich unverschämt. Aber was ich gesagt habe, habe ich durchaus ernst gemeint. Was ist denn schief gelaufen? Erzählen Sie mir nicht, dass das Mädchen Ihnen einen Korb gegeben hat. Hatte sie vielleicht zu viel auf dem Herzen? Kommen Sie, Sie können sich mir ruhig anvertrauen. Jetzt bin ich nicht betrunken. Außerdem …«
    Nun blickte ich auf. »Was?«
    »Nun, man kann die Gerüchte kaum überhören.«
    »Über Caroline?«
    »Über die ganze Familie.« Er sprach nun mit mehr Ernst. »Ein Freund von mir aus Birmingham arbeitet gelegentlich mit John Warren zusammen. Er hat mir berichtet, in welch erschütterndem Zustand Roderick ist. Eine schlimme Geschichte, nicht wahr? Ich finde es kaum überraschend, wenn Caroline darüber deprimiert ist. Und nun hat es noch einen weiteren Vorfall auf Hundreds Hall gegeben, wie ich gehört habe?«
    »Ja, das hat es«, erwiderte ich nach kurzem Schweigen. »Und offen gesagt, Seeley: Der Fall ist so eigenartig, dass ich daraus nicht schlau werde.«
    Darauf erzählte ich ihm praktisch die ganze Geschichte, beginnend mit Rod und seinen Wahnvorstellungen; dann beschrieb ich das Feuer, die Kritzeleien an den Wänden, das gespenstische Läuten der Dienstbotenglocken und gab schließlich in groben Zügen Mrs. Ayres’ schreckliches Erlebnis im Kinderzimmertrakt wieder. Seeley hörte schweigend zu, nickte gelegentlich und stieß ab und zu ein grimmiges Lachen aus, das fast wie ein Bellen klang. Doch im Laufe meines Berichts erstarb sein Lachen, und als ich fertig war, blieb er einen Moment still sitzen, dann beugte er sich vor und schnippte die Asche von seiner Zigarette. Und als er sich wieder zurücklehnte, sagte er: »Die arme Mrs. Ayres. Eine ziemlich ausgeklügelte Art, sich die Pulsadern aufzuschneiden, finden Sie nicht?«
    Ich blickte ihn an. »So würden Sie den Fall also sehen?«
    »Guter Mann, wie denn sonst? Es sei denn natürlich, die arme Frau wäre schlicht einem geschmacklosen Scherz aufgesessen. Aber ich nehme an, das haben Sie bereits ausgeschlossen?«
    »Ja, natürlich. Das habe ich«, erwiderte ich.
    »Also dann: Die Schritte auf dem Korridor, das schwere Atmen im Sprachrohr, das scheint mir doch ein ziemlich klarer Fall einer Psychoneurose zu sein. Sie fühlt sich schuldig, weil sie ihre Kinder verloren hat – Roderick ebenso wie das kleine

Weitere Kostenlose Bücher