Der Besucher - Roman
Mädchen. Sie will sich dafür bestrafen. Oben in den Kinderzimmern hat das Ganze stattgefunden, sagen Sie? Da hätte sie sich doch kaum einen bedeutungsvolleren Schauplatz aussuchen können!«
Ich musste zugeben, dass mir der gleiche Gedanke auch schon gekommen war, genau wie mich drei Monate zuvor die Tatsache befremdet hatte, dass das Feuer auf Hundreds ausgerechnet im Büro des Hauses ausgebrochen war, mitten zwischen den Papieren des Anwesens – wie eine Verdichtung der Misserfolge und der Verzweiflung Rodericks.
Doch irgendetwas überzeugte mich trotzdem nicht ganz. »Ich weiß nicht«, erwiderte ich. »Selbst wenn wir annehmen, dass Mrs. Ayres’ Erlebnis ausschließlich wahnhaft war, und selbst wenn wir für jeden einzelnen Vorfall auf Hundreds eine vernünftige Erklärung finden könnten – was meiner Einschätzung nach durchaus möglich wäre –, dann ist da immer noch die schiere Häufung von Ereignissen, die mich beunruhigt!«
Er trank noch einen Schluck Whisky. »Wie meinen Sie das?«
»Nun, lassen Sie es mich mal so formulieren: Ein Junge kommt mit gebrochenem Arm zu Ihnen. Keine Frage, Sie gipsen den Arm ein und schicken ihn wieder nach Hause. Zwei Wochen später kommt der Junge wieder, diesmal mit gebrochenen Rippen. Vielleicht versorgen Sie ihn wieder und schicken ihn nach Hause. Eine Woche später ist er schon wieder da, mit der nächsten Fraktur … Hier haben wir doch wohl ein Problem, das über die einzelnen Knochenbrüche hinausgeht?«
»Aber wir reden hier nicht von Knochen«, sagte Seeley. »Wir reden über Hysterie. Und Hysterie ist etwas ganz anderes, viel weniger Fassbares – und im Gegensatz zu gebrochenen Knochen leider auch ansteckend! Vor vielen Jahren war ich mal als Schularzt an einem Mädcheninternat, und in einem Schuljahr gab es eine regelrechte Welle von Ohnmachtsanfällen. So etwas haben Sie noch nicht gesehen: Die Mädchen fielen um wie die Kegel. Schließlich färbte es sogar auf die Lehrerinnen ab.«
Ich schüttelte den Kopf. »Aber diese Sache ist noch seltsamer als Hysterie. Es ist beinahe so, als ob … nun, als ob irgendetwas der ganzen Familie das Leben aussaugt.«
»Irgendetwas, ja, das will ich meinen«, sagte er mit einem weiteren grimmigen Bellen. »Und dieses Etwas nennt sich Labour-Regierung. Das Problem der Familie Ayres ist doch, dass sie sich nicht an die neuen Verhältnisse anpassen können oder wollen. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Ich habe vollstes Verständnis dafür. Aber was bleibt einer alteingesessenen Familie wie den Ayres in England heutzutage noch? Diese Gesellschaftsklasse hat ihre beste Zeit hinter sich, kein Wunder, wenn ihnen da jetzt auch noch die Nerven durchgehen.«
Er klang fast wie Peter Baker-Hyde, und ich fand seine abgebrühte Redeweise ziemlich abstoßend. Schließlich war er auch nie ein Freund der Familie gewesen, so wie ich. »Das mag für Rod gelten«, sagte ich. »Jeder, der ihn als Jungen gekannt hat, hätte wohl vorhersagen können, dass er auf einen Nervenzusammenbruch zusteuert. Aber Mrs. Ayres suizidgefährdet? Das kann ich mir einfach nicht vorstellen.«
»Ich habe doch auch gar nicht gemeint, dass sie sich wirklich ernsthaft das Leben nehmen wollte, als sie die Hände durch dieses Fenster gesteckt hat. Ich nehme eher an, dass sie – wie die meisten angeblich suizidgefährdeten Frauen – bloß ein hübsches kleines Drama inszeniert hat, in dem sie selbst endlich mal wieder die Hauptrolle spielt. Vergessen Sie nicht: Sie ist Aufmerksamkeit gewöhnt, und ich glaube kaum, dass ihr davon in letzter Zeit allzu viel zuteil geworden ist. Sie sollten lieber aufpassen, dass sie das gleiche Spielchen nicht noch einmal versucht, sobald das augenblickliche Getue um sie wieder nachgelassen hat. Sie behalten sie doch im Auge?«
»Natürlich tue ich das. Sie scheint sich wieder vollständig erholt zu haben. Das erstaunt mich übrigens auch.« Ich trank einen Schluck Whisky. »Diese ganze verdammte Geschichte erstaunt mich! Auf Hundreds sind Sachen geschehen, die ich mir einfach nicht erklären kann. Es ist gerade so, als ob über dem ganzen Haus eine Art Miasma hängt! Caroline …« Ich zögerte und fuhr dann widerstrebend fort: »Caroline hat sich sogar in den Kopf gesetzt, dass dort irgendetwas beinahe Übernatürliches vorgeht – dass Roderick das Haus im Schlaf heimsucht oder etwas in der Art. Sie hat da ein paar reißerische Bücher gelesen, spinnerten Kram. Frederic Myers und Konsorten.«
»Nun«, erwiderte
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