Der Besucher - Roman
es auch irgendwie.«
Beinahe hätte ich noch mehr gesagt, so sehr drängte es mich, mir Erleichterung zu verschaffen, doch dann musste ich wieder an die unerfreuliche Situation beim Ärzteball im Januar denken. Vielleicht erinnerte sich Seeley ebenfalls daran und wollte sein Benehmen von damals wiedergutmachen, oder vielleicht sah er auch nur an meinem Verhalten, in welch schlechter Verfassung ich tatsächlich war. Jedenfalls sagte er: »Hören Sie, ich bin für heute fertig hier und Sie wahrscheinlich auch. Wie wäre es, wenn Sie noch auf einen Drink mit zu mir nach Hause kommen? Kaum zu glauben, aber es ist mir tatsächlich gelungen, eine Flasche Scotch zu ergattern. Ein Geschenk von einer dankbaren Patientin. Kann ich Sie vielleicht damit locken?«
»Zu Ihnen nach Hause?«, fragte ich mit einer gewissen Überraschung.
»Ja, warum denn nicht? Kommen Sie ruhig mit. Sie tun mir einen Gefallen, wenn Sie ein oder zwei Glas mittrinken, denn sonst muss ich mir die ganze Flasche allein einverleiben!«
Plötzlich kam es mir vor, als sei es Monate her, dass ich zum letzten Mal etwas so Alltägliches getan hatte, wie mit einem Kollegen ein Gläschen zu trinken, deshalb willigte ich ein. Wir hüllten uns in unsere Winterkleidung und machten uns auf den Weg zu unseren Autos – er, auf seine etwas extravagante Art in dickem braunem Mantel und einem Paar fellbesetzter Rennfahrerhandschuhe, die ihn wie einen gutmütigen Bären aussehen ließen; ich, etwas bescheidener in meinem einfachen Mantel und Schal. Ich fuhr als Erster los, doch bald hatte er mich mit seinem Packard überholt und brauste wagemutig vorweg über die vereisten Landstraßen. Als ich fünfundzwanzig Minuten später vor seinem Haus vorfuhr, war er längst drinnen, hatte Flasche und Gläser bereitgestellt und das Feuer geschürt.
Er wohnte in einem weitläufigen edwardianischen Gebäude, das über zahlreiche helle, aber recht unordentliche Zimmer verfügte. Er hatte erst spät geheiratet und mit seiner jungen Frau Christine vier bildhübsche Kinder bekommen. Als ich das Haus betrat, jagten gerade zwei von ihnen einander durchs Treppenhaus. Ein weiteres warf einen Tennisball gegen die Wohnzimmertür.
»Ruhe, ihr gottverdammten Blagen!«, rief Seeley vom Türrahmen des Arbeitszimmers. Er winkte mich in sein Arbeitszimmer und entschuldigte sich für das Durcheinander. Doch gleichzeitig schien er eine Art heimlichen Stolz zu empfinden, so wie ich es oft bei Leuten beobachtet hatte, wenn sie sich bei Junggesellen wie mir über ihren lärmenden Nachwuchs beklagten.
Bei diesem Gedanken empfand ich plötzlich eine gewisse Fremdheit ihm gegenüber. Wir hatten fast zwanzig Jahre lang in freundschaftlicher Rivalität zusammengearbeitet, doch richtige Freunde waren wir eigentlich nie gewesen. Als er die Flasche öffnete, blickte ich auf die Uhr und sagte: »Gießen Sie mir lieber nur einen kleinen ein. Ich muss heute Abend noch jede Menge Rezepte schreiben.«
Er ließ den Whisky großzügig in die Gläser fließen. »Umso mehr Grund, ordentlich einzuschenken. Dann können Ihre Patienten ein paar freudige Überraschungen erleben! Mein Gott, der riecht aber gut, nicht wahr? Auf die Freude!«
Wir stießen an und tranken. Er deutete mit seinem Glas auf ein paar ramponierte Lehnstühle, zog einen mit dem Fuß dichter ans Feuer und bedeutete mir, mich zu setzen. Dann angelte er sich selbst den zweiten, wobei es ihn nicht kümmerte, dass er dabei den staubigen Läufer verschob. Aus der Eingangshalle hörte man immer noch das Lärmen der Kinder, und kurz darauf wurde die Tür aufgerissen, und einer seiner hübschen Jungen kam ins Zimmer und sagte: »Vater.«
»Raus mit dir!«, brüllte Seeley.
»Aber, Sir …«
»Raus mit dir, oder ich schneide dir die Ohren ab! Wo ist deine Mutter?«
»In der Küche, mit Rosie.«
»Dann geh doch zu ihr, in Dreiteufelsnamen!«
Die Tür flog mit einem Knall ins Schloss. Seeley nippte verbissen an seinem Whisky und suchte gleichzeitig in seiner Tasche nach der Schachtel Players. Ausnahmsweise einmal war ich schneller und bot ihm meine Schachtel und Feuer an, und mit der Zigarette zwischen den Lippen lehnte er sich in seinen Sessel zurück.
»Trautes Familienglück!«, sagte er gespielt überdrüssig. »Beneiden Sie mich etwa, Faraday? Das sollten Sie wirklich nicht. Ein Familienvater ist nie ein wirklich guter Hausarzt – man hat viel zu viele eigene Sorgen. Es sollte per Gesetz geregelt werden, dass Ärzte Junggesellen bleiben
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