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Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Waters
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Teenageralter?«
    Ich wandte den Blick ab. »Ja, das haben sie. Das Mädchen hat zuallererst das Thema Spuk aufgebracht.«
    »Ach, tatsächlich? Und wie alt ist sie? Vierzehn? Fünfzehn? Hat da draußen in der Einöde nicht viel Gelegenheit, mit Jungs zu flirten, nehme ich an?«
    »Ach, sie ist noch ein Kind«, sagte ich.
    »Nun, der Sexualtrieb ist der dunkelste von allen und muss sich irgendwohin entladen. Wie elektrischer Strom hat er die Tendenz, sich seine Leiter zu suchen. Doch wenn er brachliegt – nun, dann kann er ziemlich gefährliche Energien freisetzen.«
    Ich war erstaunt über seine Wortwahl. Langsam sagte ich: »Caroline hat auch von Energien gesprochen.«
    »Caroline ist ein kluges Mädchen. Ich habe immer schon gedacht, dass sie in dieser Familie den Schwarzen Peter gezogen hat. Musste mit einer zweitklassigen Gouvernante zu Hause bleiben, während der Junge in ein Eliteinternat geschickt wurde. Und dann, als sie es endlich geschafft hatte, auszubrechen, wurde sie wieder von ihrer Mutter zurückgeschleift, um Roderick in seinem Rollstuhl auf der Terrasse hin und her zu schieben. Als Nächstes wird sie wahrscheinlich Mrs. Ayres auf und ab schieben müssen. Dabei hat sie natürlich ganz andere Bedürfnisse …« Er lächelte wieder, doch sein Lächeln wirkte schlüpfrig. »Nun, es steht mir kaum zu, hier Ratschläge zu geben. Aber das Mädchen wird nicht jünger – und Sie auch nicht, mein Guter! Sie haben mir diesen ganzen Fall dargelegt und nicht ein einziges Mal über Ihre eigene Situation gesprochen. Wie genau sieht die denn aus? Zwischen Caroline und Ihnen gibt es bereits gewisse … Sympathien, stimmt das? Keine festeren Absichten?«
    Ich spürte den Whisky in meinem Körper. Ich hob das Glas, trank noch einen Schluck und sagte leise: »Von meiner Seite durchaus. Von mir aus könnte es ruhig festere Formen annehmen, um ehrlich zu sein!«
    Er wirkte überrascht. »So steht es also?«
    Ich nickte.
    »So, so. Das hätte ich nie gedacht. Von Caroline, meine ich … Aber da haben Sie womöglich die Wurzel Ihres Miasmas !«
    Sein Gesichtsausdruck war noch durchtriebener als sonst, und es dauerte einen Moment, bis ich ihn verstanden hatte. »Sie wollen doch nicht sagen …«
    Er begegnete meinem Blick und fing an zu lachen. Offenbar amüsierte er sich köstlich. Er trank den Rest seines Whiskys aus, schenkte dann großzügig in unsere Gläser nach und zündete sich eine zweite Zigarette an. Darauf begann er, mir eine weitere Geistergeschichte zu erzählen, die noch phantastischer als die letzte klang.
    Doch ich hörte ihm kaum mehr zu. Er hatte mich ins Grübeln gebracht: Meine Gedanken tickten unaufhörlich wie ein Metronom und wollten sich nicht mehr anhalten lassen. Natürlich war das alles Unfug. Ich wusste, dass es Unfug war, und die alltäglichen Dinge um mich herum schienen meinen düsteren Grübeleien zu spotten. Im Kamin knisterte das Feuer. Die Kinder trampelten immer noch durchs Treppenhaus. Aus den Gläsern stieg aromatischer Whiskyduft empor … Doch draußen vor dem Fenster war die dunkle Nacht, und ein paar Meilen entfernt lag Hundreds Hall in winterlicher Dunkelheit, und dort war alles anders. Könnte in seiner Andeutung womöglich ein Körnchen Wahrheit stecken? War es möglich, dass in diesem Haus irgendetwas freigesetzt worden war und nun ungezügelt herumgeisterte – eine Art ausgehungerte, frustrierte Energie, die von Caroline ausging?
    Ich musste wieder daran denken, wie alles angefangen hatte – an den Abend jener unseligen Gesellschaft, als Caroline so gedemütigt worden war und das Kind der Baker-Hydes schließlich Verletzungen davongetragen hatte. Wenn nun an jenem Abend irgendein Prozess seinen Anfang genommen hatte – wenn eine Art seltsamer, gefährlicher Samen gesät worden war? Ich erinnerte mich an Carolines wachsende Feindschaft gegenüber ihrem Bruder in den folgenden Wochen, an die Ungeduld ihrer Mutter gegenüber. Sowohl ihre Mutter als auch ihr Bruder hatten Verletzungen davongetragen, genau wie Gillian Baker-Hyde. Und Caroline war es gewesen, die mir als Erste diese Verletzungen vor Augen geführt hatte. Caroline hatte die Brandflecken in Rodericks Zimmer bemerkt, das Feuer entdeckt, das Pochen gehört und die »kleine klopfende Hand« hinter der Wand bemerkt.
    Dann gingen meine Gedanken in eine andere Richtung: Dieses Etwas, was bei Gyp begonnen hatte – vielleicht als ein »Zwicken« oder »Flüstern«, wie Betty es formuliert hatte –, dieses Etwas hatte

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