Der Besucher - Roman
Seeley, während er seine Zigarette ausdrückte. »Vielleicht ist sie ja auf der richtigen Spur.«
Ich starrte ihn an. »Das ist nicht Ihr Ernst?«
»Warum denn nicht? Myers’ Ideen sind doch nur eine folgerichtige Erweiterung der Psychologie, oder?«
»Nicht nach meinem Verständnis der Psychologie, nein«, sagte ich.
»Sind Sie sicher? Sie würden doch sicherlich dem allgemein anerkannten Prinzip beipflichten: eine bewusste Persönlichkeit, der ein unterbewusstes Selbst anhaftet – eine Art Traum-Ich.«
»Im Großen und Ganzen, ja.«
»Nun, angenommen, dass dieses Traum-Ich sich unter bestimmten Umständen abspalten kann – den Raum durchquert und sichtbar für andere wird. Ist das nicht Myers’ These?«
»Soweit ich weiß, ja«, erwiderte ich. »Und daraus lassen sich auch treffliche Kamingeschichten spinnen. Aber in Gottes Namen: Mit Wissenschaft hat das doch nichts zu tun.«
»Nein, das stimmt«, erwiderte er lächelnd. »Und ich würde diese Theorie auch nur äußerst ungern vor der Ärztekammer verteidigen wollen. Aber vielleicht hat die Medizin ja in fünfzig Jahren eine Methode gefunden, dieses Phänomen zu kalibrieren und zu erklären. Und bis dahin werden die Menschen wohl weiter über Ghule, Geister und langbeinige Monster spekulieren und am Wesentlichen vorbeireden …«
Er nippte an seinem Whisky und fuhr dann fort: »Übrigens hat mein Vater mal einen Geist gesehen. Eines Abends ist meine Großmutter an der Tür zu seiner Praxis erschienen. Zu dem Zeitpunkt war sie schon zehn Jahre tot. Sie sagte zu ihm: ›Schnell, Jamie! Geh nach Hause!‹ Er hat nicht lange nachgedacht, sondern seinen Mantel übergezogen und ist schnurstracks zum Haus seiner Familie gegangen. Und da stellte sich heraus, dass sein Lieblingsbruder Henry sich die Hand verletzt hatte und sich an der Wunde eine Sepsis bildete. Mein Vater amputierte einen Finger und hat damit wahrscheinlich seinem Bruder das Leben gerettet. Und wie erklären Sie sich das?«
»Das kann ich nicht erklären«, erwiderte ich. »Aber ich sag Ihnen was: Mein Vater hat immer ein Bullenherz im Schornstein aufgehängt, in das er Nadeln gestochen hatte, um böse Geister abzuwehren. Ich weiß genau, wie ich das erklären würde!«
Seeley lachte. »Kein besonders fairer Vergleich!«
»Warum nicht? Weil Ihr Vater ein Gentleman war und meiner bloß ein kleiner Krämer?«
»Seien Sie doch nicht so empfindlich, Mann! Und jetzt hören Sie mir mal zu. Ich glaube nicht eine Sekunde, dass mein Vater in jener Nacht wirklich einen Geist gesehen hat – genauso wenig, wie ich glaube, dass die arme Mrs. Ayres Anrufe von ihrer verstorbenen Tochter bekommen hat. Die Vorstellung, dass die verblichenen Anverwandten durch den Äther schweben und mit bohrenden Blicken unsere Angelegenheiten überwachen, ist wirklich ein bisschen schwer verdaulich. Aber angenommen, der Stress, den mein Onkel durch die Verletzung erlitt, hat – begünstigt noch durch die enge Verbindung zwischen ihm und meinem Vater – eine Art … psychische Kraft freigesetzt. Und diese Kraft hat einfach die Form angenommen, die am besten geeignet war, die Aufmerksamkeit meines Vaters zu erregen. Ziemlich clever eigentlich.«
»Aber das, was auf Hundreds geschehen ist, ist in keiner Weise gutartig«, sagte ich. »Ganz im Gegenteil.«
»Ist das denn so überraschend, wo sich der Familie doch nur so trostlose Perspektiven bieten? Das Unterbewusste hat schließlich viele düstere, unzufriedene Winkel. Stellen Sie sich bloß vor, etwas löst sich aus einer dieser Ecken. Lassen Sie es uns als … als Keim bezeichnen. Und sagen wir, dass dieser Keim ideale Bedingungen vorfindet, um sich zu entwickeln – um zu wachsen, wie ein Kind im Mutterleib. In was würde sich dieser kleine Fremdling verwandeln? In eine Art Schatten-Ich vielleicht, einen Caliban, einen Mr. Hyde. Ein Geschöpf, das durch all die niederträchtigen Impulse und Leidenschaften angetrieben wird, die das Bewusstsein zu verbergen hoffte: Neid, Boshaftigkeit, Enttäuschungen … Caroline hatte ihren Bruder in Verdacht. Wie schon gesagt: Vielleicht hat sie nicht unrecht. Vielleicht sind bei seinem Flugzeugabsturz nicht nur die Knochen verletzt worden. Vielleicht ist ein viel tiefer gehender Schaden entstanden … Andererseits stecken hinter derartigen Dingen meist Frauen. Da wäre natürlich Mrs. Ayres, die Mutter im Klimakterium, psychisch gesehen natürlich eine sehr heikle Zeit. Und haben sie dort nicht sogar ein Hausmädchen im
Weitere Kostenlose Bücher