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Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Waters
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hatten, das wir alle inzwischen nur noch als »Mrs. Ayres’ Unfall« bezeichneten. Auch Mrs. Ayres erholte sich weiterhin gut. Ihre Schnitte verheilten ordentlich. Sie verbrachte die Tage im kleinen Salon, las oder döste in ihrem Sessel. Lediglich eine gewisse Unnahbarkeit, eine kaum merkliche Glasigkeit ihres Blicks deuteten auf das Martyrium hin, das sie durchlebt hatte – und beides schrieb ich überwiegend dem Veronal zu, das sie nach wie vor einnahm, um nachts besser zu schlafen, und das ihr meiner Meinung nach bei kurzfristiger Einnahme auch keinen Schaden zufügen würde. Ich bedauerte nur, dass Caroline nun so viel Zeit drinnen verbringen musste, um ihrer Mutter Gesellschaft zu leisten, denn das bedeutete, dass sie und ich sogar noch weniger Gelegenheit hatten, miteinander allein zu sein. Ich freute mich aber, dass auch sie weit weniger besorgt und unruhig wirkte. So schien sie sich seit unserem Besuch in der Klinik mit dem Verlust ihres Bruders abgefunden zu haben, und zu meiner großen Erleichterung gab es auch kein weiteres Gerede über Poltergeister und Gespenster.
    Doch andererseits geschahen auch keine weiteren mysteriösen Vorkommnisse – kein Läuten der Dienstbotenglocken, kein Pochen, keine Schritte –, keinerlei seltsame Vorfälle. Das Haus »betrug sich« weiterhin »ordentlich«, wie Caroline es formuliert hatte. Und als der März dem Ende entgegenging und ein ereignisloser Tag dem anderen folgte, dachte ich tatsächlich, dass der seltsame Anfall von Nervosität, der in den letzten Wochen über Hundreds hereingebrochen war, nun wie ein Fieber seinen Höhepunkt überschritten hatte und abgeklungen war.
     
    Ende des Monats änderte sich dann das Wetter. Der Himmel verdunkelte sich, die Temperatur sank, und es begann zu schneien. Der Schnee kam ziemlich überraschend, er war zwar keineswegs so heftig wie die Schneestürme und Verwehungen des vorangehenden Winters, aber dennoch lästig für mich und die anderen praktischen Ärzte. Selbst mit Schneeketten kam ich mit meiner Ruby auf den verschneiten Landstraßen nur schlecht voran. Meine tägliche Runde wurde zu einem Kampf, und mehr als eine Woche lang war der Park von Hundreds Hall praktisch unpassierbar, so dass ich es nicht riskieren wollte, hindurchzufahren. Trotzdem schaffte ich es, das Herrenhaus recht oft zu besuchen; ich ließ das Auto am Osttor stehen und legte den Rest des Weges zu Fuß zurück. Hauptsächlich fuhr ich hin, um Caroline zu sehen, denn die Vorstellung, dass sie da draußen so allein und abgeschnitten von der Welt festsaß, gefiel mir ganz und gar nicht. Außerdem wollte ich Mrs. Ayres im Blick behalten. Doch die Ausflüge zum Herrenhaus mochte ich auch um ihrer selbst willen. Wenn ich mich über die verschneite Zufahrt näherte, überfiel mich beim ersten Anblick des Hauses stets eine Art ehrfürchtiger Schauer, denn vor der weißen Fläche sah Hundreds Hall einfach herrlich aus; die roten Backsteine und das Grün des Efeus schienen umso lebhafter zu leuchten, und die Unzulänglichkeiten des Gebäudes wurden durch das zarte Zuckerbäckerwerk aus Eis gemildert. Weder summte der Generator, noch hörte man Maschinengebrumm von der Farm oder metallisches Klappern von der Baustelle; die Bauarbeiten waren wegen des Schnees vorübergehend eingestellt worden. Nur meine leisen, knirschenden Schritte durchdrangen die Stille, und ich bewegte mich fast verschämt und versuchte, jegliches Geräusch zu dämpfen, als sei das Haus verzaubert – als sei es das Dornröschenschloss, das Caroline ein paar Wochen zuvor heraufbeschworen hatte, und ich fürchtete, seinen Bann zu brechen. Sogar innen war das Haus durch das Wetter auf subtile Weise verändert. Durch die dünne Schneedecke auf der Glaskuppel wirkte die Eingangshalle noch düsterer, und durch die Zimmerfenster drang kühles, weißliches Licht, in dem sich die Schatten ganz anders zu verhalten schienen als sonst.
    Der stillste dieser schneeverzauberten Tage war ein Dienstag, der sechste April. Ich ging nachmittags zum Haus und rechnete damit, Caroline wie sonst bei ihrer Mutter im Salon vorzufinden, doch anscheinend leistete an diesem Tag Betty Mrs. Ayres Gesellschaft. Sie saßen an einem Tischchen und spielten mit abgestoßenen hölzernen Spielsteinen Dame. Im Kamin prasselte ein ordentliches Feuer, und im Zimmer war es stickig und warm. Caroline war zur Farm hinübergegangen, wie mir ihre Mutter erzählte; sie wollte im Laufe der nächsten Stunde wieder zurückkommen. Ob ich

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