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Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Waters
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allmählich an Kraft gewonnen: Es hatte Gegenstände hin und her bewegt, Feuer gelegt und Kritzeleien auf der Holzvertäfelung hinterlassen. Nun konnte es auf Trippelfüßen umherlaufen. Es war als Stimme vernehmlich geworden, die um Atem rang. Was würde als Nächstes kommen?
    Entnervt beugte ich mich vor. Seeley bot mir wieder die Flasche an, doch ich schüttelte den Kopf.
    »Ich habe Sie schon lange genug aufgehalten. Ich muss mich jetzt wirklich auf den Weg machen. Es war nett von Ihnen, dass Sie mir Ihr Ohr geliehen haben.«
    »Mir scheint, ich konnte nicht viel tun, um Sie zu beruhigen«, erwiderte er. »Sie sehen schlimmer aus als bei Ihrer Ankunft! Warum bleiben Sie nicht noch ein bisschen?«
    Doch er wurde durch seinen hübschen Sohn unterbrochen, der ins Zimmer gestürmt kam. Gelockert vom Whisky sprang Seeley aus seinem Sessel empor und jagte das Kind wieder in die Halle zurück. Als er zu mir zurückkehrte, hatte ich mein Glas ausgetrunken und mir bereits Mantel und Hut für den Heimweg angezogen.
    Er vertrug den Alkohol offenbar besser als ich, denn er brachte mich flotten Schrittes zur Tür, während ich ein wenig unsicher auf den Beinen war, als ich nach draußen in die Nacht trat. Ich spürte den Alkohol in meinem leeren Magen brennen. Ich fuhr das kurze Stück nach Hause, dann stand ich in meiner ungeheizten Arzneiausgabe, während die Übelkeit wie eine Welle in mir emporstieg – und mit ihr stieg ein noch unangenehmeres Gefühl an die Oberfläche: eine Angst, eine Art Grauen fast. Mein Herz pochte viel zu schnell. Ich zog den Mantel aus und merkte, dass ich schwitzte. Nachdem ich einen Augenblick unschlüssig herumgestanden hatte, ging ich in mein Sprechzimmer. Ich nahm das Telefon ab und wählte mit ungeschickten Fingern die Nummer von Hundreds Hall.
    Es war schon nach elf. Das Telefon klingelte lange Zeit. Dann hörte ich Carolines argwöhnische Stimme: »Ja, hallo?«
    »Caroline! Ich bin’s.«
    Sofort klang ihr Tonfall besorgt. »Ist etwas passiert? Wir waren schon zu Bett gegangen. Ich dachte …«
    »Nein, nichts ist passiert«, erwiderte ich. »Nichts. Ich … Ich wollte nur deine Stimme hören.«
    Ich klang vermutlich ziemlich einfältig. Am anderen Ende der Leitung war Schweigen, dann lachte sie. Ihr Lachen klang müde und ganz normal. Meine Furcht und Übelkeit schwanden dahin.
    »Mir scheint, du bist ein bisschen betrunken«, sagte sie.
    Ich wischte mir das Gesicht ab. »Ja, das bin ich wohl. Ich war bei Seeley, und er hat mich mit Whisky abgefüllt. Mein Gott, was für ein schrecklicher Kerl! Er hat mir ganz komische Gedanken in den Kopf gesetzt … alberne Sachen. Es tut so gut, deine Stimme zu hören, Caroline. Bitte sag doch noch etwas.«
    Sie schnalzte missbilligend, »Du bist vielleicht albern! Was wird die Dame von der Vermittlung denken? Was soll ich denn sagen?«
    »Irgendwas. Sag ein Gedicht auf.«
    »Ein Gedicht. Na gut!« Und sie rezitierte zügig und abweisend: »›Der Frost tut insgeheim, was seines Amtes, kein Wind hilft ihm dabei‹. Und jetzt geh schlafen, ja?«
    »Ja, gleich. Ich möchte nur noch einen Augenblick in Gedanken bei dir sein. Ist auch alles in Ordnung?«
    Sie seufzte. »Ja, alles ist in Ordnung. Das Haus beträgt sich ausnahmsweise mal ordentlich. Mutter schläft – es sei denn, du hast sie gerade geweckt.«
    »Tut mir leid«, erwiderte ich. »Tut mir leid, Caroline. Gute Nacht.«
    »Gute Nacht«, sagte sie, begleitet von einem weiteren müden Lachen.
    Dann wurde das Lachen leiser, und sie hängte den Hörer auf. Ein Klicken ertönte, als die Verbindung unterbrochen wurde, gefolgt von dem diffusen Zischen und Stimmengewirr aus der Leitung.
     
     
     
    1)
    Aus: Catherine Crowe: Die Nachtseite der Natur oder Geister und Geisterseher. Nach der zweiten engl. Ausgabe übersetzt von Carl Kolb. Stuttgart 1849.
    2)
    Ebd.
    3)
    Ebd.

12
     
     
     
     
     
     
    B ei meinem nächsten Besuch auf Hundreds fand ich Barrett dort vor. Caroline hatte ihn geholt, damit er das ärgerliche Sprachrohr ausbaute. Ich sah den Schlauch, als er ihn wegräumte, und wie vermutet hatte sich die Gewebehülle teilweise gelöst, und das darunterliegende Gummi sah ziemlich spröde und mitgenommen aus. Zusammengerollt auf Barretts Armen wirkte das ganze Ding so harmlos und Mitleid erregend wie eine mumifizierte Schlange. Mrs. Bazeley und Betty waren durch den Ausbau des Rohres jedenfalls beruhigt und verloren allmählich die Anspannung und Furcht, die sie seit dem Ereignis gezeigt

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