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Der Besucher - Roman

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Titel: Der Besucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Waters
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Ayres, jetzt, wo Sie wieder ruhiger sind, wieder mehr Sie selbst …«
    Sie blickte mich an, sagte jedoch nichts. Ich entschied, das Risiko einzugehen, und redete weiter.
    »Neulich im Kinderzimmer«, sagte ich. »Das war schon merkwürdig, nicht wahr? Eine furchtbare Sache. Ich bin so froh, dass alles vorbei ist.«
    Sie lächelte – ein eigenartiges Lächeln, geduldig und geheimnisvoll zugleich. Ihre Wangenknochen hoben sich, und ihre Augen wurden schmaler. Sie stand auf und klopfte sich behutsam den Schnee von den Waschlederhandschuhen.
    »Ach, Dr. Faraday«, sagte sie dabei. »Wie arglos Sie doch sind!«
    Sie sagte es so milde und nachsichtig, dass ich beinahe gelacht hätte. Doch ihre Miene war immer noch undurchsichtig, und allmählich bekam ich es, ohne recht zu wissen, warum, mit der Angst zu tun. Ich erhob mich hastig und nicht sehr geschickt, wobei mir die Schöße meines Mantels an den Fersen hängen blieben und mich fast zum Sturz gebracht hätten. Sie war schon ein paar Schritte vorausgegangen; ich holte sie ein und berührte sie am Arm.
    »Warten Sie«, sagte ich. »Wie meinen Sie das?«
    Sie hatte das Gesicht von mir abgewandt und antwortete nicht.
    Ich fragte: »Hat es etwa noch weitere … Vorfälle gegeben? Sie glauben doch nicht immer noch, dass … dass Susan …?«
    »Susan«, murmelte sie, immer noch mit halb abgewandtem Gesicht. »Susan ist die ganze Zeit über bei mir. Sie folgt mir, wohin ich auch gehe. Ja, sie ist auch jetzt hier bei uns, in diesem Garten.«
    Einen Augenblick lang versuchte ich mir einzureden, dass sie im übertragenen Sinne sprach; dass sie meinte, sie würde ihre Tochter stets in Gedanken und in ihrem Herzen mit sich herumtragen. Doch dann wandte sie mir ihr Gesicht wieder zu, und in ihrer Miene lag etwas Schreckliches, eine Mischung aus absoluter Einsamkeit und der Angst der Gejagten.
    »Mein Gott, warum haben Sie mir das denn nicht schon eher gesagt?«, fragte ich.
    »Damit Sie mich untersuchen und behandeln«, erwiderte sie, »und mir dann sagen, dass ich bloß träume?«
    »Aber meine liebe Mrs. Ayres – Sie träumen doch auch! Merken Sie das denn nicht?« Ich nahm ihre behandschuhten Hände in meine. »Schauen Sie sich doch um! Hier ist niemand! Das spielt sich alles nur in Ihrem Kopf ab. Susan ist tot . Das wissen Sie doch, oder?«
    »Natürlich weiß ich das!«, sagte sie beinahe hochmütig. »Wie sollte ich das nicht wissen? Mein Liebling ist gestorben … Aber nun ist sie wieder zurückgekehrt.«
    Ich drückte ihre Finger. »Aber wie soll das möglich sein? Wie können Sie das bloß glauben? Mrs. Ayres, Sie sind doch eine vernünftige Frau. Wie kommt sie denn hierher? Können Sie sie sehen? «
    »Nein, gesehen habe ich sie noch nicht. Aber ich spüre sie.«
    »Sie spüren sie?«
    »Ich spüre, wie sie mich beobachtet. Ich kann ihren Blick spüren. Das muss doch wohl ihr Blick sein, oder? Er ist so eindringlich – ihre Augen sind wie Finger – sie können einen berühren. Sie können drücken und kneifen.«
    »Mrs. Ayres, bitte hören Sie auf damit!«
    »Ich kann ihre Stimme hören. Ich brauche weder Sprachrohr noch Telefon, um sie zu hören. Sie spricht mit mir.«
    »Sie spricht mit …«
    »Sie flüstert.« Sie neigte den Kopf, als würde sie lauschen, dann hob sie die Hand. »Jetzt flüstert sie auch gerade.«
    Ihr Eifer hatte etwas beinahe Unheimliches. Mit mühevoll kontrollierter Stimme sagte ich: »Und was flüstert sie?«
    Ihr Blick wurde wieder düster. »Sie sagt immer wieder das Gleiche. Sie sagt: Wo bist du? Sie sagt: Warum kommst du nicht zu mir? Sie sagt: Ich warte auf dich .«
    Während sie diese Sätze sprach, verfiel sie selbst in ein heiseres Flüstern; die Worte schienen einen Moment lang in der Luft zu schweben, zusammen mit dem Atem, der sie geformt hatte. Dann waren sie fort, verschlungen von der weißen Stille.
    Ich stand einen Moment wie erstarrt da und wusste nicht, was ich tun sollte. Noch vor ein paar Minuten war mir der kleine Garten beinahe heimelig erschienen. Nun schien die ummauerte Parzelle mit ihrem einzigen Ausgang, der bloß in einen weiteren engen, isolierten Bereich führte, von Bedrohung erfüllt. Es war, wie schon gesagt, ein außergewöhnlich ruhiger Tag. Kein Windhauch bewegte die Zweige, kein Vogel erhob sich in die stille, kalte Luft, und wenn es irgendein Geräusch oder eine Bewegung gegeben hätte, wäre mir das sicherlich nicht entgangen. Alles war unverändert – und dennoch kam es mir plötzlich so vor, als ob

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