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Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Waters
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hier in diesem Garten etwas bei uns war und durch den harschen weißen Schnee auf uns zuschlich. Und noch schlimmer: Ich hatte das ungute Gefühl, dieses Etwas, was immer es auch war, bereits zu kennen, als sei sein zaghaftes, scheues Annähern in Wahrheit eine Wiederkehr. Ich spürte, wie mir eine Gänsehaut über den Rücken lief, und rechnete fast damit, dass mich im nächsten Augenblick eine Hand berühren würde wie bei einem kindlichen Fangenspiel mit Abklatschen. Ich ließ Mrs. Ayres’ Hände los und blickte verwirrt um mich.
    Der Garten war leer, der Schnee unberührt bis auf unsere eigenen Fußspuren. Doch das Herz sank mir in die Hose, und meine Hände zitterten. Ich nahm den Hut ab und wischte mir über das Gesicht. Der Schweiß stand mir auf der Oberlippe und den Brauen – und die kalte Luft brannte auf meiner erhitzten, nassen Haut.
    Gerade setzte ich meinen Hut wieder auf, als ich hörte, wie Mrs. Ayres scharf den Atem einzog. Ich drehte mich wieder zu ihr um und sah, wie sie sich an den Kragen fasste; ihr Gesicht war zu einer Grimasse verzogen, die Farbe stieg ihr ins Gesicht. »Was ist denn? Was ist los?«, fragte ich. Sie schüttelte den Kopf, brachte aber keine Antwort heraus. Doch sie sah so mitgenommen aus, dass ich sofort an ihr Herz dachte: Ich zog ihre Hand von der Kehle weg, öffnete ihre Halstücher und ihren Mantel. Unter dem Mantel trug sie eine Strickjacke, darunter wiederum eine Seidenbluse. Die Bluse war von einer blassen Elfenbeinfarbe, und während ich noch fassungslos den Blick darauf gerichtet hielt, schienen drei kleine purpurrote Tropfen aus dem Nichts an die Oberfläche des Stoffes zu dringen und sich dann, wie Tinte auf Löschpapier, nach allen Seiten auszubreiten. Ich zog den Kragen der Bluse herunter und entdeckte auf Mrs. Ayres’ bloßer Haut einen ziemlich tiefen, offenbar ganz frischen, immer noch anschwellenden Kratzer, aus dem rote Blutstropfen quollen.
    »Was haben Sie denn da gemacht!«, rief ich entsetzt. »Wie haben Sie das angestellt?« Ich blickte an ihrer Kleidung herab und suchte nach einer Brosche oder Anstecknadel. Dann griff ich nach ihren Händen und untersuchte ihre Handschuhe. Doch da war nichts. »Womit haben Sie das gemacht?«
    Sie senkte den Blick. »Mein kleines Mädchen«, murmelte sie. »Sie möchte so gern, dass ich zu ihr komme. Ich fürchte … sie ist nicht immer freundlich.«
    Als mir klar wurde, was sie da sagte, überfiel mich Übelkeit. Ich trat einen Schritt zurück, weg von ihr. Dann überkam mich eine neue Welle des Verstehens, ich ergriff wieder ihre Hände, zog die Handschuhe herunter und schob grob ihre Ärmel hinauf. Dort, wo sie sich vor ein paar Wochen an den Scherben des Fensters geschnitten hatte, waren die Wunden verheilt und hoben sich in einem gesunden, frischen Rosaton von der übrigen, blasseren Haut ab. Doch es schien mir, als könne ich hier und da zwischen den Narben ein paar frische Kratzer erkennen. Und an einem ihrer Unterarme befand sich ein blasses Hämatom von einer merkwürdigen Form, als habe ihr eine kleine, entschlossene Hand ins Fleisch gekniffen.
    Ihre Handschuhe waren zu Boden gefallen. Zitternd hob ich sie auf und half ihr, sie wieder anzuziehen. Dann fasste ich sie am Ellbogen.
    »Ich bringe Sie jetzt ins Haus zurück, Mrs. Ayres.«
    »Wollen Sie versuchen, mich von ihr wegzubringen?«, fragte sie. »Das wird nichts nützen, wissen Sie.«
    Ich wandte mich um und schüttelte sie. »Hören Sie auf damit! Verstanden? Hören Sie um Gottes willen auf, solche Dinge zu sagen!«
    Sie wankte schlaff in meinen Armen hin und her, und plötzlich konnte ich ihr gar nicht mehr ins Gesicht blicken und verspürte eine eigenartige Scham. Ich nahm sie beim Handgelenk und führte sie aus den überwucherten Gärten; sie folgte mir bereitwillig. Wir gingen an der starren Uhr vorbei, zurück über die Wiese und ins Haus. Ich brachte sie sofort nach oben in ihr Zimmer, ohne ihr den Mantel auszuziehen. Erst als wir in ihrem warmen Zimmer waren, nahm ich ihr Hut und Mantel ab, zog ihr die schneebedeckten Schuhe aus und führte sie zum Sessel neben dem Kamin.
    Doch dann musterte ich die Gegenstände in ihrer Umgebung: die Kohlen im Kamin, die Schürhaken, die Feuerzange, die Gläser, Spiegel und spitzen Verzierungen … Alles schien plötzlich irgendwie gefährlich und geeignet, ihr Schaden zuzufügen. Ich läutete nach Betty; doch der Griff bewegte sich nutzlos in meiner Hand, ohne einen Ton zu erzeugen, und da erst fiel mir wieder

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