Der Besucher - Roman
du hast mir versprochen, dass sie wieder gesund würde, solange ich nur tue, was du sagst. Und dabei habe ich sie doch ständig im Auge behalten! Tag für Tag habe ich bei ihr gesessen. Ich habe dafür gesorgt, dass sie diese schrecklichen Pillen nimmt! Du hast es versprochen!«
»Es tut mir so leid, Caroline. Ich habe mein Bestes getan. Ihr Zustand ist schlimmer, als ich ahnen konnte. Wenn wir sie nur noch kurze Zeit unter Beobachtung halten können, nur noch heute Nacht.«
»Und was ist dann morgen? Und übermorgen? Und danach?«
»Deiner Mutter ist mit einfachen Mitteln nicht mehr zu helfen. Ich werde alles organisieren, das verspreche ich dir. Noch heute Abend werde ich alles in die Wege leiten. Und morgen nehme ich sie mit.«
Sie verstand mich nicht und schüttelte ungeduldig den Kopf. »Ja, aber wohin denn? Wie meinst du das?«
»Sie kann hier nicht bleiben.«
»Du meinst, du willst sie fortschaffen, genau wie Roddie?«
»Ich fürchte, es ist der einzig mögliche Weg.«
Sie fasste sich an die Stirn, und ihr Gesicht verzog sich schmerzhaft. Ich dachte, sie würde weinen. Doch tatsächlich hatte sie angefangen zu lachen, ein grausames, freudloses Lachen. »Mein Gott!«, stieß sie hervor. »Und wie lange dauert es noch, bis ich an der Reihe bin?«
Ich nahm ihre Hand. »Sag doch so etwas nicht.«
Sie schob meine Finger auf ihre Pulsadern und sagte: »Ich meine es ernst. Los, sag es mir! Du bist doch der Arzt, oder? Wie lange habe ich noch?«
Ich schüttelte sie ab. »Vielleicht nicht mehr lange, wenn deine Mutter hierbleibt und etwas Schreckliches geschieht! Und genau davor habe ich Angst! Schau doch mal, in was für einem Zustand du dich befindest! Wie wollt ihr denn mit ihr zurechtkommen, du und Betty? Es ist die einzige Lösung.«
»Die einzige Lösung. Wieder eine Klinik.«
»Ja.«
»Das können wir uns nicht leisten.«
»Ich helfe euch. Ich werde schon einen Weg finden. Wenn wir erst mal verheiratet sind …«
»Wir sind aber noch nicht verheiratet. Mein Gott!« Sie verschränkte die Hände. »Hast du denn gar keine Angst?«
»Wovor Angst?«
»Vor dem Fluch der Ayres – vor unserer Veranlagung!«
»Caroline!«
»Aber genau das werden die Leute doch sagen, oder? Ich weiß genau, dass schon über Roddie getratscht wird.«
»Wir sind doch wohl darüber hinaus, uns am Gerede der Leute zu stören!«
»Ja – jemandem wie dir ist das natürlich egal!«
Sie sprach fast brüsk. Überrascht erwiderte ich: »Wie meinst du das?«
Sie wandte sich verwirrt ab. »Ich meine bloß, dass das, was du mit meiner Mutter vorhast, für sie ganz furchtbar wäre! Wenn sie wieder so wie früher wäre, meine ich. Verstehst du denn nicht? Wenn wir als Kinder krank waren, erlaubte sie uns kaum, einen Mucks zu machen. Sie sagte immer, dass Familien wie die unsere einen Ruf zu wahren hätten – dass wir eine Verantwortung hätten und mit gutem Beispiel vorangehen müssten. Und wenn wir das nicht könnten, wenn wir nicht in jeder Hinsicht besser und tapferer sein könnten als das einfache Volk – wo wäre dann unsere Daseinsberechtigung? Die Scham darüber, dass du meinen Bruder fortgebracht hast, war schon schlimm genug. Wenn du sie nun auch noch wegbringst – ich glaube, sie würde es nicht zulassen.«
»Tut mir leid, aber ihr wird kaum eine andere Wahl bleiben«, erwiderte ich grimmig. »Ich werde Graham noch einmal hinzuziehen. Wenn sie sich bei ihm so aufführt, wie sie sich heute Nachmittag vor mir gezeigt hat, dann gibt es gar keine Frage!«
»Lieber würde sie sterben!«
»Tja – womöglich könnte es sie das Leben kosten, wenn sie hierbleibt. Und außerdem – was mir, offen gesagt, noch größere Sorgen bereitet: Es könnte auch dich das Leben kosten. Und das will ich nicht riskieren. Bei Roderick habe ich zu lange gezögert und es hinterher bereut. Ich will den gleichen Fehler nicht noch einmal machen. Wenn ich könnte, würde ich sie sogar jetzt sofort mitnehmen.«
Dabei warf ich einen Blick zum Fenster hinaus. Der schneebedeckte Boden reflektierte noch das Tageslicht, doch der Himmel hatte sich zu einem dunklen Zinkgrau verfärbt. Dennoch dachte ich ernsthaft darüber nach, sie gleich hier und jetzt mitzunehmen, und sagte abwägend: »Ich denke, es ließe sich machen. Ich könnte sie sedieren. Wir würden schon mit ihr klarkommen, du und ich. Der Schnee wäre natürlich ein gewisses Hindernis, aber wir brauchen sie auch erst mal nur bis nach Hatton zu bringen …«
»In die Irrenanstalt?«,
Weitere Kostenlose Bücher