Der Besucher - Roman
sagte sie entgeistert.
»Nur für eine Nacht. Nur bis ich die nötigen Vorbereitungen getroffen habe. Ich kenne da ein, zwei Privatkliniken, die sie sicherlich aufnehmen würden, aber sie brauchen einen Tag Vorlauf. Und bis dahin muss sie unter strenger Beobachtung bleiben. Das macht die Dinge natürlich komplizierter.«
Sie blickte mich entsetzt an und begriff endlich, wie ernst es mir war. »Du redest ja, als wäre sie gemeingefährlich!«
»Ich glaube, dass sie eine Gefahr für sich selbst darstellt.«
»Wenn du nur vor ein paar Wochen zugelassen hättest, dass ich sie wegbringe, so wie ich es wollte, wäre all das nicht geschehen! Und jetzt willst du sie in die Klapsmühle abschieben – wie irgendeine Irre von der Straße!«
»Tut mir leid, Caroline. Aber ich weiß genau, was sie mir gesagt hat. Ich weiß, was ich gesehen habe. Und du wirst doch wohl nicht erwarten, dass ich sie sich selbst überlasse, ohne sie zu behandeln? Du meinst doch nicht im Ernst, dass ich sie ihren Wahnvorstellungen überlassen sollte – nur um irgendeinen obskuren Klassenstolz zu wahren?«
Sie hatte wieder die Hände zum Gesicht geführt; die Finger hielt sie wie ein Dach vor Mund und Nase und presste die Fingerspitzen in die inneren Augenwinkel. Sie starrte mich einen Moment stumm an, zog den Atem ein, und als sie ihn wieder ausstieß, schien sie zu einem Entschluss gekommen zu sein. Sie ließ die Hände sinken.
»Nein«, sagte sie. »Das meine ich nicht. Aber ich will nicht, dass du sie nach Hatton bringst, so dass es jeder mitbekommt. Das würde sie mir nie verzeihen. Du kannst sie morgen in die Privatklinik mitnehmen, in aller Stille. Dann … Dann habe ich auch etwas Zeit, mich an den Gedanken zu gewöhnen.«
So sicher und entschieden hatte ich sie schon seit der Zeit vor Gyps Tod nicht mehr erlebt. Ein wenig beschämt erwiderte ich: »Na gut. Aber in diesem Fall bleibe ich heute Nacht hier.«
»Das brauchst du nicht.«
»Aber dann habe ich ein ruhigeres Gewissen. Um acht muss ich eigentlich auf Station sein, aber einmal kann ich das auch absagen. Ich werde denen sagen, dass sich ein Notfall ergeben hat. Und, mein Gott, schließlich ist das ja auch ein Notfall!« Ich blickte auf die Uhr. »Ich werde jetzt meine Abendsprechstunde abhalten, dann komme ich wieder und bleibe über Nacht.«
Sie schüttelte den Kopf. »Mir wäre lieber, du würdest das nicht tun.«
»Deine Mutter muss unter strenger Beobachtung bleiben, Caroline. Und zwar die ganze Nacht über.«
»Ich kann doch auf sie aufpassen, oder? Ist sie denn nicht sicher bei mir?«
Ich öffnete den Mund zu einer Antwort, doch ihre Frage hatte bei mir eine Alarmglocke schrillen lassen, und mit Entsetzen ging mir auf, dass ich an das Gespräch mit Seeley zurückdachte. Ich spürte einen Hauch des kranken Verdachts wiederkehren, der zu jenem Zeitpunkt in mir aufgekommen war. Der Gedanke war unvorstellbar, geradezu grotesk. Doch hier draußen auf Hundreds waren auch schon andere unvorstellbare, groteske Dinge geschehen. Und wenn nun Caroline in irgendeiner Weise dafür verantwortlich war? Angenommen, ihr Unterbewusstsein hatte eine Art gewalttätige Schattengestalt hervorgebracht, die nun das Haus mit ihrem Spuk heimsuchte? Konnte ich Mrs. Ayres schutzlos dortlassen – und sei es nur für eine Nacht?
Caroline blickte mich an und wartete auf eine Antwort. Mein Zögern schien sie zu verwirren, und Argwohn keimte in ihren klaren braunen Augen auf.
Ich schüttelte den krankhaften, verrückten Verdacht ab. »Also gut«, sagte ich. »Sie kann hier bei dir bleiben. Aber lass sie nicht aus den Augen – mehr verlange ich nicht. Und du musst mich sofort anrufen, wenn irgendetwas Ungewöhnliches passiert. Egal was.«
Sie versprach mir, das zu tun. Ich umarmte sie kurz, dann begleitete ich sie über die Empore zum Schlafzimmer ihrer Mutter. Mrs. Ayres und Betty saßen noch genauso da, wie ich sie verlassen hatte, in der immer dichter werdenden Dunkelheit. Ich versuchte das Licht anzuschalten, doch dann fiel mir wieder der stumme Generator ein; daher zündete ich mithilfe eines brennenden Holzspans ein paar Öllampen an und zog die Vorhänge vor. Sofort wirkte der Raum freundlicher. Caroline trat zu ihrer Mutter.
»Dr. Faraday hat mir erzählt, dass es dir nicht so gut geht, Mutter«, sagte sie beinahe verlegen. Sie streckte die Hand aus und schob ihrer Mutter eine graue Haarsträhne aus dem Gesicht. »Geht es dir denn schlecht?«
Mrs. Ayres hob ihr müdes Gesicht. »So
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