Der Besucher - Roman
ein, dass Caroline den Draht durchgeschnitten hatte. Also ging ich ans obere Ende der Treppe und rief mehrmals lautstark in die Stille hinunter, und schließlich tauchte Betty auf.
»Keine Angst«, beruhigte ich sie, ehe sie etwas sagen konnte. »Ich möchte nur, dass du Mrs. Ayres Gesellschaft leistest.« Ich stellte ihr einen Stuhl bereit. »Ich möchte, dass du dich hier hinsetzt und dafür sorgst, dass sie alles hat, was sie braucht, während ich …«
Doch tatsächlich wusste ich gar nicht, was ich mit Mrs. Ayres anfangen sollte, nachdem ich sie einmal hierhergebracht hatte. Ich musste wieder an den Schnee draußen im Park denken, an die isolierte Lage des Hauses. Wenn wenigstens Mrs. Bazeley da gewesen wäre, hätte ich mich schon um einiges ruhiger gefühlt. Aber nun, wo nur Betty da war, um mir zu helfen …! Ich hatte nicht einmal meine Arzttasche aus dem Auto mitgebracht. Ich hatte weder Geräte noch Medikamente dabei. Ich stand unentschlossen, ja beinahe panisch da, während die beiden Frauen mich anschauten.
Dann hörte ich Schritte unten auf dem Marmorboden der Eingangshalle. Ich ging zur Tür, blickte hinunter und sah zu meiner großen Erleichterung Caroline die Treppe hinaufsteigen. Sie löste gerade ihren Schal und zog die Mütze ab, wobei ihr das braune Haar unordentlich über die Schultern fiel. Ich rief ihren Namen. Überrascht blickte sie auf und stieg dann schneller hinauf.
»Was ist los?«
»Deine Mutter«, sagte ich. »Ich … Einen kleinen Moment noch.«
Ich hastete zu Mrs. Ayres ins Schlafzimmer zurück, nahm ihre Hand und sprach mit ihr wie mit einem Kind oder einem Schwerversehrten.
»Ich will nur rasch mit Caroline reden, Mrs. Ayres. Ich lasse die Tür offen, und Sie müssen mich rufen – Sie müssen mich sofort rufen, wenn irgendetwas Ihnen Angst macht. Haben Sie mich verstanden?«
Sie wirkte müde und erschöpft und gab keine Antwort. Ich warf Betty einen bedeutungsvollen Blick zu, dann ging ich wieder nach draußen und führte Caroline in ihr eigenes Zimmer. Dort ließ ich die Tür ebenfalls offen und blieb gleich in der Nähe des Rahmens stehen.
»Was ist passiert?«, fragte Caroline.
Ich legte den Finger an die Lippen. »Sprich leise. Caroline, mein Liebling, es geht um deine Mutter. So wahr mir Gott helfe – aber ich habe ihren Fall wohl falsch eingeschätzt. Ich hatte angenommen, dass sie Zeichen der Besserung zeigte. Du nicht auch? Doch was sie mir gerade erzählt hat … Ach, Caroline. Hast du irgendwelche Veränderungen an ihr bemerkt, seit ich das letzte Mal hier war? Sie ist dir nicht außergewöhnlich unruhig oder aufgewühlt erschienen – nervös oder verängstigt?«
Sie blickte mich verwirrt an. Als sie sah, wie ich mich Richtung Tür bewegte, um über die Empore in das Zimmer ihrer Mutter zu spähen, fragte sie: »Was ist denn los? Kann ich zu ihr?«
Ich legte ihr die Hände auf die Schultern. »Hör zu«, sagte ich. »Ich glaube, sie ist verletzt.«
»Wie, verletzt?«
»Ich glaube, sie … hat sich selbst verletzt.«
Und ich berichtete ihr in knappen Worten, was vorgefallen war, als ich mich mit ihrer Mutter im Mauergarten aufgehalten hatte. »Sie glaubt, dass deine Schwester die ganze Zeit bei ihr ist, Caroline«, sagte ich. »Sie klang verängstigt, regelrecht gepeinigt. Sie hat gesagt … Sie meinte, dass deine Schwester ihr Verletzungen zufügen würde. Ich habe einen Kratzer gesehen«, sagte ich und deutete auf meinen Hals. »Genau hier, auf Höhe ihres Schlüsselbeins. Ich weiß nicht, wie sie das angestellt hat oder womit sie es gemacht hat. Aber dann habe ich mir ihre Arme angeschaut und gesehen, dass sie dort noch andere Schnitte und Hämatome hatte. Ist dir denn gar nichts aufgefallen? Du musst doch irgendetwas bemerkt haben?«
»Schnitte und Hämatome«, wiederholte sie und kämpfte mit dem Begreifen. »Ich glaube, Mutter war immer schon anfällig für blaue Flecken. Und ich habe schon gemerkt, dass sie sich durch das Veronal unbeholfener bewegt.«
»Das hat nichts mit Unbeholfenheit zu tun. Das ist vielmehr … Es tut mir leid, mein Liebling. Sie hat den Verstand verloren.«
Sie blickte mich an, und ihre Miene schien sich zu verschließen. Dann wandte sie sich zur Tür. »Ich möchte zu ihr.«
»Warte noch«, sagte ich und zog sie zurück.
Doch sie schüttelte mich verärgert ab. »Du hast es mir versprochen! Ich habe es dir schon vor Wochen gesagt. Ich habe dich gewarnt, dass irgendetwas in diesem Haus ist. Du hast mich ausgelacht! Und
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