Der Besucher - Roman
Verhältnis zur Familie Bescheid. »Es wäre auch keine Schande, wenn Sie diese Aufgabe jemand anderem übertragen würden.«
Einen Moment lang zog ich das tatsächlich in Erwägung. Ich habe noch nie gern Autopsien vorgenommen, und sie sind besonders schwer auszuführen, wenn der Patient einem gut bekannt ist. Doch die Vorstellung, Mrs. Ayres’ armen gezeichneten Körper an Graham oder Seeley weiterzugeben, bereitete mir noch größeres Unbehagen. Es schien mir, als hätte ich sie ohnehin schon im Stich gelassen, und wenn ich ihr diesen letzten, demütigenden Akt schon nicht ersparen konnte, dann konnte ich ihn wenigstens selbst ausführen und dafür sorgen, dass es behutsam und mit der nötigen Ehrerbietung geschah. Also schüttelte ich den Kopf und erwiderte dem Coroner, dass ich schon klarkäme. Und da mittlerweile Mittag vorbei war, meine Morgensprechstunde ohnehin nicht mehr zu retten war und sich der Nachmittag in seiner ganzen Leere vor mir ausdehnte, ging ich vom Büro des Coroners gleich weiter ins Leichenschauhaus, um die Obduktion so schnell wie möglich hinter mich zu bringen.
Es war eine schreckliche Angelegenheit, und ich stand in dem eiskalten, weiß gefliesten Raum vor der abgedeckten Leiche, während das Sezierbesteck auf einem Tablett bereitlag, und fragte mich, ob ich die Untersuchung wirklich durchführen konnte. Erst als ich das Laken zurückgeschlagen hatte, gewann ich meine Fassung wieder. Jetzt, wo ich schon wusste, was mich erwartete, kamen mir die Verletzungen weit weniger schockierend vor; die Schnitte und kleinen Blutergüsse, die mir auf Hundreds so an die Nerven gegangen waren, verloren bei näherem Hinsehen einiges von ihrem Schrecken. Ich hatte damit gerechnet, dass sie Mrs. Ayres’ gesamten Körper bedecken würden, doch nun sah ich, dass sie sich überwiegend an Stellen befanden, die sie selbst hatte problemlos erreichen können – ihr Rücken zum Beispiel wies keinerlei Spuren auf. Die Verletzungen, die sie erlitten hatte, hatte sie sich ganz offenbar selbst zugefügt; darüber war ich in gewisser Weise erleichtert, wenn ich auch selbst nicht recht wusste, warum. Ich fuhr mit meiner Arbeit fort und setzte die Schnitte. Ich glaube, ich hatte mit irgendwelchen Geheimnissen gerechnet, doch die enthüllten sich nicht. Es gab keinerlei Anzeichen für irgendwelche Krankheiten, nur die üblichen Alterserscheinungen. Auch gab es keinerlei Hinweise darauf, dass Mrs. Ayres in ihren letzten Tagen oder Stunden unter äußerer Gewaltanwendung gelitten hatte; es fanden sich weder Knochenverletzungen noch Quetschungen innerer Organe. Der Tod war offensichtlich durch Ersticken beim Erhängen eingetreten, was sich mit den Fakten deckte, die Caroline und Betty mir beschrieben hatten.
Abermals war ich erleichtert, diesmal spürte ich das Gefühl ganz eindeutig. Und mir wurde klar, dass ich die Autopsie noch aus einem ganz anderen, dunkleren Grund hatte selbst durchführen wollen: Ich hatte befürchtet, dass irgendeine Einzelheit zutage treten könne, die womöglich den Verdacht auf Caroline lenkte. Was genau oder wie, hatte ich mir zwar auch nicht vorstellen können, doch im tiefsten Innern hatte ich dieses nagende, bohrende Misstrauen verspürt. Nun endlich war jeglicher Zweifel aus dem Wege geräumt, und ich schämte mich für mein Misstrauen.
Ich richtete die Leiche wieder so gut her, wie ich konnte, und reichte meinen Bericht an den Coroner weiter. Die gerichtliche Untersuchung wurde drei Tage später abgehalten, doch da die Beweislage so eindeutig war, ging sie sehr rasch vonstatten. Die gerichtliche Feststellung lautete auf »Selbsttötung infolge krankhafter Störung der Geistestätigkeit«, und der ganze Vorgang dauerte nicht länger als eine halbe Stunde. Das Schlimmste daran war, dass die gerichtliche Untersuchung in aller Öffentlichkeit ablief. Obwohl die Zuschauermenge recht klein gehalten wurde, waren einige Zeitungsreporter anwesend, die ziemlich aufdringlich wurden, als ich Caroline und Betty aus dem Gerichtssaal begleitete. Die Geschichte erschien in dieser Woche in allen Zeitungen der Midlands und wurde rasch auch von einigen überregionalen Blättern aufgegriffen. Ein Reporter kam sogar aus London und fuhr zum Herrenhaus, wo er sich als Polizist ausgab, um Caroline interviewen zu können. Sie und Betty wurden ihn glücklicherweise ohne größere Probleme wieder los, doch der Gedanke, dass so etwas jederzeit wieder geschehen konnte, entsetzte mich. Ich erinnerte mich an den
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