Der Besucher - Roman
sich doch nicht im Ernst die Schuld daran geben? Das dürfen Sie wirklich nicht. Wir haben das doch alle schon erlebt: Wenn ein Patient sich zu einem solchen Entschluss durchgerungen hat, kann man ihn kaum mehr davon abbringen. Sie werden dann unaufrichtig, geradezu hinterhältig, das wissen Sie doch! Kopf hoch, Junge!«
»Ja«, erwiderte ich. »Wahrscheinlich ist das so.«
Doch meine eigenen Worte klangen mir hohl in den Ohren. Und als ich den Hörer wieder auf die Gabel gelegt hatte, warf ich einen schuldbewussten Blick die Treppe hinauf zu Mrs. Ayres’ Tür und entfernte mich dann kläglich, mit schamhaft gesenktem Kopf.
Ich kehrte wieder zu Caroline in den kleinen Salon zurück, setzte mich neben sie und hielt ihr die Hand. Ihre Finger fühlten sich so kühl und unpersönlich an wie die einer Wachspuppe. Ich hob sie vorsichtig an meine Lippen, doch sie reagierte nicht. Sie neigte lediglich den Kopf, als würde sie auf etwas lauschen. Das ließ mich ebenfalls die Ohren spitzen. Wir saßen da wie erstarrt – sie mit geneigtem Kopf, ich noch immer mit ihrer Hand an meinen Lippen –, doch im Haus blieb alles still. Nicht einmal das Ticken einer Uhr war zu hören. Das Leben hier drinnen schien zum Stillstand gekommen zu sein.
Sie fing meinen Blick auf und sagte leise: »Spürst du es? Endlich ist das Haus ruhig. Was immer hier gewesen ist – es hat alles bekommen, was es wollte. Und weißt du, was das Schlimmste dabei ist? Ich habe ihm dabei geholfen!«
13
D och mehr wollte sie über die Angelegenheit nicht sagen. Die Polizei und die Leute vom Leichenschauhaus kamen, und während die Leiche abtransportiert wurde, nahm man unsere Aussagen auf – Carolines, meine und Bettys. Nachdem die Männer wieder gegangen waren, blieb Caroline einen Moment lang mit ausdruckslosem Blick stehen, doch dann gab sie sich einen Ruck, wie eine Marionette, die plötzlich zum Leben erweckt wird, setzte sich an den Schreibtisch und fing an, eine Liste der Dinge zu erstellen, die in den kommenden Tagen erledigt werden mussten; auf einem weiteren Blatt notierte sie die Namen der Freunde und Verwandten, die eine Todesanzeige bekommen sollten. Ich schlug ihr vor, dies doch auf später zu verschieben, aber sie schüttelte nur den Kopf und arbeitete beharrlich weiter, und mir wurde schließlich klar, dass diese Aufgaben sie ein wenig von ihrem Schock ablenkten und daher wahrscheinlich das Beste waren, was sie im Moment tun konnte. Ich nahm ihr das Versprechen ab, dass sie bald aufhören, ein Beruhigungsmittel nehmen und zu Bett gehen würde, dann holte ich eine karierte Wolldecke vom Sofa und hüllte sie darin ein, um sie warm zu halten. Als ich das Haus verließ, erklang das dumpfe Zuschlagen von Fensterläden und das Klappern von Gardinenringen; sie hatte Betty befohlen, die Zimmer zu verdunkeln, als traditionelle Geste der Trauer und Ehrerbietung. Während ich über den Kies schritt, hörte ich, wie der letzte der Fensterläden geschlossen wurde, und als ich mich von der Einmündung der Zufahrt noch einmal zum Herrenhaus umdrehte, schien es starr und blind vor Trauer über die schweigende weiße Landschaft zu blicken.
Am liebsten hätte ich Hundreds Hall gar nicht verlassen, doch leider warteten ein paar dringende, unangenehme Pflichten auf mich, und ich fuhr keineswegs nach Hause, sondern nach Leamington, um mit dem Coroner über Mrs. Ayres’ Tod zu sprechen. Mir war klar, dass sich die Fakten des Falles schwerlich verschleiern ließen und ich den Tod kaum als einen natürlichen ausgeben konnte, wie ich es in solchen Fällen gelegentlich aus Rücksicht auf die trauernde Familie tat. Doch da ich Mrs. Ayres bereits wegen psychischer Probleme behandelt und die ersten Anhaltspunkte für selbstverletzendes Verhalten gefunden hatte, hatte ich die vage Hoffnung, dass ich wenigstens Caroline die Qualen einer gerichtlichen Untersuchung ersparen konnte. Der Coroner zeigte zwar Mitgefühl, war jedoch ein gewissenhafter Mensch: Der Tod sei plötzlich und auf gewaltsame Weise eingetreten; er würde sein Möglichstes tun, um die Angelegenheit diskret abzuwickeln, doch eine gerichtliche Untersuchung der Todesursache würde sich nicht vermeiden lassen.
»Das beinhaltet natürlich auch eine Autopsie«, sagte er zu mir. »Und da Sie der Arzt sind, der den Todesfall gemeldet hat, würde ich Sie normalerweise bitten, diese Autopsie selbst durchzuführen. Glauben Sie denn, dass Sie dem gewachsen sind?« Er wusste über mein
Weitere Kostenlose Bücher