Der Besucher - Roman
Haus verlassen, sofort bei Caroline anrief und sich die Geschichte von ihr bestätigen ließ. Caroline, die der Anruf völlig unvorbereitet traf, war zerstreut und müde und daher entsprechend wortkarg. Ja, ich sei ihr eine große Hilfe. Ja, eine Hochzeit sei geplant. Nein, einen Termin hätten wir noch nicht festgesetzt. Sie hätte sich auch noch keine großen Gedanken darum machen können, alles sei noch zu frisch.
Doch wenigstens gab es danach keine weiteren Versuche, Caroline vom Haus wegzulocken; und offenbar gaben die Desmonds und Rossiters die Neuigkeiten über unsere Verlobung unter dem Siegel der Verschwiegenheit an ein oder zwei Nachbarn weiter, die die Nachricht ihrerseits ebenso diskret ihren Freunden weitererzählten. Während der folgenden Tage konnte ich jedenfalls deutlich spüren, wie sich die Haltung in meinem Bezirk veränderte: Man behandelte mich plötzlich weniger als Hausarzt der Familie Ayres, den man ruhig über diese schreckliche Geschichte auf Hundreds ausfragen konnte, sondern mehr wie ein Mitglied der Familie, dem man Achtung und Mitgefühl entgegenbrachte. Der einzige Mensch, mit dem ich offen über die Sache sprach, war David Graham, und er war hocherfreut über die Neuigkeit. Er habe schon seit Monaten geahnt, »dass da was im Busch sei«, Anne hätte »einen Riecher« für so etwas, doch sie hatten mich nicht mit ihrer Neugier bedrängen wollen. Er wünschte nur, dass es nicht einer solchen Tragödie bedurft hätte, um die Sache publik zu machen. Er bestand darauf, dass Caroline in der nächsten Zeit für mich erste Priorität haben müsse, und bot an, mir die Arbeit zu erleichtern und zeitweise einige meiner Patienten zu übernehmen. So konnte ich in jener ersten Woche nach dem Todesfall einen Gutteil meiner Zeit auf Hundreds Hall verbringen und Caroline bei den diversen Verpflichtungen helfen, die nun auf sie zukamen. Manchmal ging ich mit ihr im Park spazieren, um sie abzulenken, manchmal saß ich auch nur schweigend bei ihr und hielt ihr die Hand. Sie vermittelte immer noch den Eindruck, als lasse sie die Trauer nicht recht an sich heran, doch ich glaube, meine Besuche gaben ihren ziellosen Tagen eine Struktur. Sie sprach nie über das Haus, doch immerhin wirkte das Anwesen nach wie vor erstaunlich ruhig. Während der letzten Monate hatte ich beobachten können, wie das Leben auf Hundreds Hall immer mehr verkümmerte, nun schwand es sogar noch weiter und reduzierte sich auf kaum hörbares Murmeln und leise Schritte in zwei oder drei halbdunklen Räumen.
Nun, da die gerichtliche Untersuchung abgeschlossen war, stand als nächste Zerreißprobe die Beerdigung an. Caroline und ich organisierten sie gemeinsam, und sie fand am Freitag der Folgewoche statt. Angesichts der Todesumstände stimmten wir beide darin überein, dass die Veranstaltung in aller Stille ablaufen sollte; unser größtes Dilemma war allerdings die Frage, ob Rod daran teilnehmen solle oder nicht. Zunächst schien es uns ausgeschlossen, dass er der Beerdigung fernblieb, und wir dachten lange und gründlich darüber nach, wie man seine Teilnahme organisieren könne. So überlegten wir uns zum Beispiel, ob er nicht in Begleitung eines Pflegers aus Birmingham herkommen könne, den wir dann als einen Freund der Familie ausgeben würden. Doch diese Überlegungen hätten wir uns auch sparen können: Ich fuhr selbst zur Klinik, um ihm die Nachricht vom Suizid seiner Mutter beizubringen, doch seine Reaktion entsetzte mich über die Maßen. Den Verlust seiner Mutter als solchen schien er kaum zu registrieren, dafür beeindruckte ihn die Tatsache ihres Todes umso mehr, denn er sah darin wieder nur einen Beweis, dass seine Mutter ebenfalls jener diabolischen »Infektion« zum Opfer gefallen war, die er so verzweifelt hatte eindämmen wollen.
»Es muss schon die ganze Zeit über da gelauert haben«, sagte er zu mir. »In der Stille des Hauses hat es sich ausgebreitet! Und dabei dachte ich, ich hätte es besiegt! Aber sehen Sie jetzt endlich, was es fertig bringt?« Er packte mich am Arm. »Niemand ist dort mehr sicher! Caroline – mein Gott! Sie dürfen sie da nicht allein lassen! Sie ist in Gefahr! Sie müssen sie dort wegbringen. Sie müssen sie so schnell wie möglich von Hundreds fortbringen!«
Im ersten Moment hätte ich fast die Nerven verloren; die Warnung klang beinahe glaubhaft. Doch dann sah ich seinen wilden Blick und erkannte, wie weit er sich tatsächlich von jeglicher Vernunft entfernt hatte – und mir
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