Der Besucher - Roman
wurde klar, dass ich in Gefahr war, ihm auf seine Irrwege zu folgen. Ich redete ruhig und vernünftig auf ihn ein, doch dadurch wurde sein Verhalten nur noch ungezügelter. Ein paar Schwestern kamen, um ihn zu bändigen, und er schrie und rang immer noch mit ihnen, als ich ging. Caroline berichtete ich nur, dass es ihm »unverändert« ginge. Sie konnte an meiner Miene ablesen, was das bedeutete. Wir verwarfen unsere Idee, dass er auch nur für einen Tag nach Hundreds zurückkehren könne, und setzten mithilfe der Rossiters und Desmonds die Geschichte in Umlauf, dass er im Ausland sei und gesundheitlich so angeschlagen, dass er nicht reisen könne. Inwieweit sich die Leute davon täuschen ließen, weiß ich nicht. Vermutlich machten bereits seit längerem Gerüchte über den wahren Grund seiner Abwesenheit die Runde.
Jedenfalls fand die Beerdigung ohne ihn statt und verlief einigermaßen angenehm, sofern man bei einem solchen Ereignis überhaupt davon sprechen kann. Der Sarg wurde in einem Leichenwagen von Hundreds Hall abtransportiert; Caroline und ich folgten im Auto des Bestattungsunternehmers, und in den drei oder vier nachfolgenden Fahrzeugen saßen die engsten Freunde der Familie und jene Verwandten, die es geschafft hatten, den weiten Weg von Sussex und Kent nach Hundreds Hall zurückzulegen. Das Wetter war inzwischen deutlich besser geworden, doch noch immer lagen Schneereste am Boden. Die schwarzen Autos wirkten auf den kahlen weißen Straßen trostlos und einschüchternd. Leider hatten unsere sämtlichen Bemühungen, die Beerdigung in aller Stille vonstattengehen zu lassen, nichts genützt. Die Familie war einfach zu gut bekannt, und das Interesse der Landbevölkerung an ihren Edelleuten schien ungebrochen. Außerdem hatte über Hundreds Hall immer schon mehr als ein Hauch geheimnisvoller Tragik gelegen, und die Berichterstattung der Zeitungen über Mrs. Ayres’ Tod hatte das Interesse nur verstärkt. Vor Häusern und Hoftoren hatten sich die Menschen in ehrfürchtiger Neugier versammelt, um den Sarg vorbeifahren zu sehen, und als wir in die High Street von Lidcote einbogen, sahen wir, dass die Bürgersteige mit Zuschauern bevölkert waren. Sie verstummten, als wir uns näherten; die Männer nahmen Hüte und Mützen ab, ein paar der Frauen weinten, doch alle reckten die Hälse, um besser sehen zu können. Ich dachte an jenen Tag vor beinahe dreißig Jahren, als ich in meinem College-Blazer neben meinen Eltern gestanden hatte, um eine andere Beerdigung der Ayres anzuschauen; damals war der Sarg nur halb so groß gewesen wie dieser heute. Die Erinnerung daran war verwirrend; mir war plötzlich, als ob mein Leben sich im Kreis drehte, den Kopf wandte und sich in den eigenen Schwanz biss. Je näher wir der Kirche kamen, desto mehr Leute drängten sich am Straßenrand, und ich spürte, wie Caroline erstarrte. Ich nahm ihre Finger in den schwarzen Handschuhen und sagte beruhigend: »Sie wollen doch nur ihre Achtung erweisen.«
Sie hob die andere Hand zum Gesicht, als versuchte sie, sich vor den Blicken zu schützen.
»Sie schauen mich alle an! Warum starren sie mich alle an?«
Ich drückte ihre Hand. »Du musst jetzt tapfer sein.«
»Ich weiß nicht, ob ich das kann.«
»Doch, das kannst du. Sieh mich an. Ich bin bei dir, ich werde dich nicht verlassen.«
»Nein, verlass mich nicht!«, sagte sie, wandte mir das Gesicht zu und ergriff meine Hand, als würde die bloße Vorstellung sie in Panik versetzen.
Die Kirchenglocken läuteten, als wir über den Friedhof gingen; ihr Läuten klang in der kalten, windstillen Luft unnatürlich laut und klagend. Caroline hielt den Kopf gesenkt, sie hing schwer an meinem Arm, doch als wir erst einmal in der Kirche waren, wurde sie ruhiger, denn nun ging es nur noch darum, den Trauergottesdienst zu überstehen, die ritualisierten Antworten zu geben und so weiter, und sie tat das auf die gleiche effiziente, förmliche Weise, in der sie während der letzten Tage auch alle anderen Pflichten erledigt hatte. Sie sang sogar bei den Kirchenliedern mit. Ich hatte sie noch nie singen gehört. Sie sang genau wie sie sprach, klangvoll, klar und deutlich.
Der Gottesdienst dauerte nicht lange, doch der Pfarrer, Mr. Spender, kannte Mrs. Ayres seit vielen Jahren und hielt eine gefühlvolle Trauerrede. Auch er bezeichnete sie als eine Dame »vom alten Schlag« – ein Begriff, wie ich ihn schon oft im Zusammenhang mit Mrs. Ayres gehört hatte. Er sagte, dass sie einem »anderen,
Weitere Kostenlose Bücher