Der Besucher - Roman
Aber Caroline kann doch unmöglich ganz allein in diesem großen Haus bleiben. Wir möchten gern, dass sie mit uns nach Sussex kommt.«
»Und was möchte Caroline?«, fragte ich.
Die Tante zog das Kinn zur Brust. Sie ähnelte ihrer Schwester, Mrs. Ayres, war aber schwerer gebaut und wirkte weniger charmant. Sie sagte: »Unter den gegebenen Umständen glaube ich nicht, dass Caroline beurteilen kann, was sie will. Sie kann sich ja kaum mehr auf den Beinen halten vor Erschöpfung. Ein Ortswechsel wird ihr nur guttun. Als ihr Arzt werden Sie dem doch sicher zustimmen.«
»Als ihr Arzt würde ich das wahrscheinlich auch«, erwiderte ich. »In anderer Hinsicht jedoch wäre ich ganz und gar nicht glücklich, wenn Caroline Warwickshire gerade jetzt verließe.«
Ich lächelte, während ich das sagte, und legte wieder die Hand auf Carolines Arm. Caroline bewegte sich leicht, als sie den Druck meiner Finger spürte, doch ich glaube, ein Großteil meiner Bemerkung war ihr entgangen; sie blickte sich gerade besorgt im Zimmer um, ob auch alles so war, wie es sein sollte. Ich sah, wie sich die Miene der Tante veränderte. Einen Moment lang herrschte Schweigen. Dann sagte sie in einem etwas spitz klingenden Tonfall: »Ich fürchte, Ihr Name ist mir entfallen, Herr Doktor.«
Ich wiederholte ihn. Sie sagte: »Faraday … Nein, ich glaube nicht, dass meine Schwester Sie je erwähnt hat.«
»Das kann ich mir auch nicht vorstellen«, erwiderte ich. »Aber wir sprachen gerade über Caroline, nicht wahr?«
»Caroline ist in einem ziemlich verletzbaren Zustand.«
»Da stimme ich Ihnen zu.«
»Wenn ich mir vorstelle, wie sie hier, so ganz allein und ohne Freunde …«
»Aber das ist sie doch gar nicht. Schauen Sie sich doch um: Sie hat viele Freunde. Vermutlich mehr, als sie in Sussex hätte.«
Die Frau starrte mich frustriert an. Dann wandte sie sich wieder ihrer Nichte zu.
»Caroline, möchtest du wirklich hierbleiben? Ich werde nicht so schnell klein beigeben! Wenn dir irgendetwas passieren sollte, würden dein Onkel und ich uns das niemals verzeihen!«
»Passieren?«, wiederholte Caroline überrascht und wandte uns wieder ihre Aufmerksamkeit zu. »Wie meinst du das denn?«
»Ich meine, wenn dir irgendetwas passieren sollte, während du allein in diesem Haus bist.«
»Aber jetzt kann mir doch gar nichts mehr passieren, Tante Cissie«, sagte Caroline. »Was soll denn noch passieren? Alles ist doch längst geschehen!«
Ich glaube, sie sprach in vollem Ernst. Doch ihre Tante blickte sie an und dachte wahrscheinlich, sie würde einen geschmacklosen Witz machen. Ich sah, wie ein Anflug von Missfallen über ihr Gesicht zog. »Na ja, du bist natürlich kein Kind mehr«, sagte sie schließlich. »Und dein Onkel und ich können dich zu nichts zwingen …«
An diesem Punkt wurde die Diskussion durch die Ankunft eines weiteren Gastes unterbrochen. Caroline entschuldigte sich und ging ihn pflichtbewusst begrüßen, und auch ich ging weiter.
Der Umtrunk war verständlicherweise eine sehr stille Angelegenheit. Es wurden keine Reden gehalten, keinerlei Versuche unternommen, dem Beispiel des Pfarrers zu folgen und ein bisschen Trost in der Düsternis zu finden. Offenbar fiel das hier auf Hundreds Hall umso schwerer, denn der desolate Zustand, in dem sich Haus und Park befanden, rief unweigerlich Mrs. Ayres’ eigenen gestörten Geisteszustand ins Gedächtnis zurück, und man konnte unmöglich vergessen, dass der Selbstmord in einem Zimmer gleich über unseren Köpfen stattgefunden hatte. Die Leute standen herum und unterhielten sich mit verlegenem Gemurmel, als seien sie nicht bloß traurig, sondern gleichzeitig auch zutiefst beunruhigt und aus der Fassung gebracht. Ab und zu warfen sie einen besorgten Blick zu Caroline hinüber, genau wie ihre Tante es getan hatte. Während ich mich von Gruppe zu Gruppe bewegte, hörte ich, wie einige Gäste schon leise darüber spekulierten, was nun wohl mit dem Herrenhaus geschehen würde – offensichtlich waren sie davon überzeugt, dass Caroline das Haus würde aufgeben müssen und Hundreds Hall keine Zukunft mehr hatte.
Ich begann mich über sie alle zu ärgern. Es kam mir so vor, als seien sie hierhergekommen, ohne etwas über das Haus oder Caroline zu wissen. Ohne die leiseste Ahnung zu haben, was das Beste für sie war, bildeten sie sich dennoch ihr Urteil und stellten Mutmaßungen an, als sei das ihr gutes Recht. Ich war erleichtert, als sich nach etwa einer Stunde die ersten Gäste
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