Der Besucher - Roman
kultivierteren Zeitalter« angehört hätte, was so klang, als sei sie sehr viel älter gewesen, als sie tatsächlich war, beinahe die letzte Überlebende ihrer Generation. Dann erinnerte er an den Tod ihrer Tochter Susan; er nehme an, dass die meisten von uns ihn ebenfalls noch im Gedächtnis hätten. Mrs. Ayres, so erinnerte er uns, sei an jenem Tag hinter dem Sarg ihres Kindes hergeschritten, und es käme ihm so vor, als sei sie im Herzen jeden Tag ihres Lebens hinter diesem Sarg hergegangen. Als Trost in dieser Tragödie ihres Todes könne uns nun die Gewissheit dienen, dass sie endlich bei ihrer Tochter angekommen sei.
Ich musterte die Trauergemeinde, während er sprach, und sah, dass viele Leute bei diesen Worten in trauriger Zustimmung nickten. Natürlich hatte keiner von ihnen Mrs. Ayres in ihren letzten Wochen erlebt, als sie einer Wahnvorstellung erlegen war, die so mächtig und grotesk war, dass sie selbst die unbelebten Objekte in ihrer Umgebung in ihren düsteren, hoffnungslosen Bann zu ziehen schien. Doch als wir über den Friedhof zum offenen Familiengrab schritten, kam es mir so vor, als habe Spender recht. Es gab keinen Zauberbann, es gab weder dunkle Schatten noch ein düsteres Geheimnis. Alles war ganz einfach. Caroline stand neben mir, schuldlos. Hundreds Hall, einer Ansammlung aus Ziegeln und Mörtel, konnte man ebenfalls keine Schuld geben, und Mrs. Ayres, die unglückliche Mrs. Ayres, war endlich wieder mit ihrem kleinen Mädchen vereint.
Gebete wurden gesprochen, der Sarg abgelassen, und wir entfernten uns vom Grab. Leute traten zu Caroline, um ihr zu kondolieren. Jim Seeley und seine Frau schüttelten ihr die Hand, gefolgt von Maurice Babb, dem Bauunternehmer, und dann von Graham und Anne. Die beiden blieben ein paar Minuten bei Caroline stehen, und während sie miteinander sprachen, sah ich, dass Seeley stehen geblieben war und in meine Richtung blickte. Nach kurzem Zögern trat ich zu ihm hin.
»Ein trauriger Tag!«, murmelte er. »Wie kommt Caroline damit zurecht?«
»In Anbetracht der Umstände hält sie sich ganz gut«, erwiderte ich. »Sie ist nur ein wenig verschlossen und in sich gekehrt.«
Er blickte zu Caroline hinüber. »Kein Wunder. Wahrscheinlich wird sie den Verlust erst jetzt so richtig spüren. Aber Sie kümmern sich um sie?«
»Das tue ich.«
»Ja, ich habe da schon so einiges munkeln hören. Ich glaube, ich sollte Ihnen wohl gratulieren, nicht wahr?«
»Es ist zwar kaum der richtige Tag, um Gratulationen entgegenzunehmen, aber …« Ich neigte ebenso verlegen wie erfreut den Kopf. »Ja, das können Sie wohl.«
Er tätschelte mir den Arm. »Ich freue mich für Sie!«
»Danke, Seeley.«
»Und für Caroline natürlich auch. Sie hat weiß Gott ein bisschen Freude verdient. Wenn Sie meinen Rat hören wollen: Halten Sie sich bloß nicht allzu lange hier auf, Sie beide, wenn das Ganze erst mal vorbei ist. Reisen Sie mit ihr woandershin – machen Sie eine nette Hochzeitsreise! Ein Neubeginn und so weiter.«
»Das habe ich auch vor«, erwiderte ich.
»Das ist gut.«
Seine Frau rief ihn. Caroline wandte sich um, als hielte sie Ausschau nach mir, und ich kehrte an ihre Seite zurück. Sie hängte sich wieder erschöpft bei mir ein, und ich wünschte von Herzen, ich hätte sie einfach bloß nach Hause fahren und sicher in ihr Bett stecken können. Doch eine Reihe von Leuten war noch zu dem üblichen Umtrunk ins Herrenhaus eingeladen worden, und es folgten ein paar schwierige Minuten, in denen wir zu organisieren versuchten, wer mit wem fahren konnte, wer noch in die Wagen des Bestattungsunternehmens passte und wer in einem Privatauto mitfahren konnte. Als ich merkte, wie Caroline dabei immer nervöser wurde, schickte ich sie unter der Obhut ihres Onkels und ihrer Tante aus Sussex schon mal vor und holte dann rasch meinen eigenen Ruby, der Platz für mich und drei weitere Mitfahrer bot. Zu mir stiegen noch die Desmonds und ein einzelner junger Mann, der in seinem Aussehen ein wenig an Roderick erinnerte. Es stellte sich heraus, dass er Carolines Cousin väterlicherseits war. Er war ein netter Kerl, durchaus teilnahmsvoll, aber offenbar auch nicht übermäßig betroffen von Mrs. Ayres’ Tod, denn er hielt während der gesamten Fahrt eine lockere Konversation aufrecht. Er hatte das Herrenhaus seit mehr als zehn Jahren nicht besucht und schien auf naive Weise froh über die Gelegenheit, Hundreds Hall wiederzusehen. Er erzählte, dass er früher immer in Begleitung seiner
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