Der Besucher - Roman
der ursprünglich für unsere Trauung vorgesehen war – saß ich am Bett eines betagten Patienten und konzentrierte mich auf seine Beschwerden. Als ich das Haus des Patienten verließ und hörte, wie die halbe Stunde schlug, rührte mich das kaum, und ich fragte mich lediglich, welchem anderen Paar man wohl unseren Termin beim Standesamt zugewiesen hatte. Ich besuchte noch ein paar weitere Patienten, die Abendsprechstunde ging recht ruhig vonstatten, und den Rest des Abends verbrachte ich zu Hause. Gegen halb zehn wurde ich müde und wollte zu Bett gehen; ich hatte mir schon die Schuhe ausgezogen und war gerade dabei, in Pantoffeln die Treppe hochzusteigen, als ich lautes Klopfen und Klingeln an der Tür zur Praxis hörte. Draußen stand ein Junge von etwa siebzehn Jahren, so außer Atem, dass er kaum sprechen konnte. Er sei fünfeinhalb Meilen bis zu mir gerannt, da es dem Mann seiner Schwester sehr schlecht ginge, dieser habe furchtbare Bauchschmerzen. Ich suchte meine Sachen zusammen und fuhr mit ihm zum Haus der Schwester – einer Behausung, wie man sie sich schlimmer kaum vorstellen kann: eine leer stehende Hütte mit Löchern im Dach und undichten Fenstern, ohne Wasser und Strom. Die Familie war illegal in das leer stehende Haus gezogen; sie kamen aus Oxfordshire und suchten hier in der Gegend nach Arbeit. Der Mann sei schon seit Tagen »immer wieder mal krank« gewesen, erzählten sie mir, er habe unter Erbrechen, Fieber und Bauchschmerzen gelitten; sie hätten ihn schon mit Lebertran behandelt, doch während der letzten Stunden sei es ihm so schlecht gegangen, dass sie Angst bekommen hätten. Da sie bei keinem Arzt gemeldet waren, hatten sie zuerst gar nicht gewusst, an wen sie sich wenden sollten. Schließlich waren sie zu mir gekommen, weil sie meinen Namen aus der Zeitung kannten.
Der arme Mann lag vollständig bekleidet auf einer Art Rollbett in dem dunklen, nur durch Kerzen erleuchteten Zimmer und war mit einem alten Armeemantel zugedeckt. Er hatte hohes Fieber, sein Unterleib war geschwollen und so berührungsempfindlich, dass er bei der Untersuchung schrie und fluchte, die Knie anzog und nach mir treten wollte. Ganz offensichtlich hatte er eine akute Appendizitis, und mir war klar, dass ich ihn so schnell wie möglich ins Krankenhaus bringen musste, ehe der Blinddarm durchbrach. Der Familie graute vor den Kosten der Operation im Krankenhaus. »Können Sie denn hier gar nichts für ihn tun?«, fragte die Frau mich immer wieder und zupfte mich am Ärmel. Sie und ihre Mutter hatten schon mal von einem Mädchen gehört, dem man nach Einnahme eines Glases voller Tabletten den Magen ausgespült hatte, und eine solche Behandlung stellten sie sich nun auch für ihn vor. Sogar der Mann selbst hatte sich auf diese Idee versteift; wenn ich bloß »das Gift aus ihm rausspülen« würde, ginge es ihm schon besser; mehr wolle er nicht und mehr würde er auch nicht dulden. Schließlich habe er mich nicht holen lassen, damit ich ihn ins Krankenhaus schickte, wo ihn dann ein Haufen verfluchter Ärzte aufschnitt und an ihm herumfummelte.
Doch dann überkam ihn ein heftiger Brechanfall, und er brachte kein Wort mehr heraus. Die Familie bekam noch mehr Angst als vorher. Endlich gelang es mir, sie vom Ernst der Situation zu überzeugen, und wir mussten nur noch klären, wie wir ihn am schnellsten ins Krankenhaus befördern konnten. Idealerweise hätte er in einem Krankenwagen abtransportiert werden sollen. Doch die Hütte war weit abgelegen, das nächste Telefon befand sich auf dem zwei Meilen entfernten Postamt. Ich sah keine andere Möglichkeit, als ihn selbst ins Krankenhaus zu bringen; also trugen der Schwager und ich ihn auf seinem Rollbett nach draußen und betteten ihn vorsichtig auf die Rückbank meines Autos. Die Ehefrau quetschte sich neben ihn, der Junge setzte sich nach vorn, und die Kinder des Paares wurden in der Obhut der alten Mutter zurückgelassen. Die Fahrt war eine Qual: Sieben oder acht Meilen, die wir fast ausschließlich auf Feldwegen und kleinen Straßen zurücklegen mussten; der Mann stöhnte oder schrie bei jedem Ruckeln des Autos und erbrach sich immer wieder in eine Schüssel; die Frau heulte so sehr, dass sie kaum mehr zu gebrauchen war; der Junge hatte eine Heidenangst. Das Einzige, was uns zugutekam, war der Vollmond, der unseren Weg so hell erleuchtete wie eine Laterne. Als wir erst einmal die Straße nach Leamington erreicht hatten, konnte ich Gas geben, und gegen halb eins fuhren wir
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