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Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Waters
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doch an! Willst du das Haus zerstören? Hundreds aufgeben? Wie kannst du nur! Wie … wie kannst du es wagen ? Hast du mir nicht einmal erzählt, dass es eine Art Privileg sei, hier zu leben? Eine Art Abmachung, bei der jeder seinen Teil einhalten müsste? Hältst du dich jetzt vielleicht daran?«
    Sie entwand mir ihr Handgelenk und sagte: »Diese Abmachung hat mich fast umgebracht! Das weißt du doch. Ich wünschte, ich wäre schon vor einem Jahr gegangen und hätte meine Mutter und meinen Bruder mitgenommen.«
    Sie bewegte sich von mir weg und wollte mit ihrer Arbeit fortfahren. Wieder verblüfften mich die Tatkraft und Entschlossenheit, die sie ausstrahlte. Ich blickte ihr hinterher und sagte ganz ruhig: »Da wäre ich mir gar nicht so sicher.«
    Als sie sich mit fragendem Stirnrunzeln wieder zu mir umdrehte, fügte ich hinzu: »Was hattest du denn schon vor einem Jahr? Ein Haus, das all deine Zeit auffraß, wie du behauptet hast. Eine alternde Mutter, einen kranken Bruder. Wie sah deine Zukunft aus? Und jetzt schau dich doch mal an. Du bist frei, Caroline. Wenn Hundreds erst mal verkauft ist, wirst du Geld haben. Es scheint mir doch, dass du dir das Leben ganz schön eingerichtet hast!«
    Sie starrte mich einen Moment lang fassungslos an, dann schoss ihr das Blut ins Gesicht. Mir wurde klar, was ich da Schreckliches angedeutet hatte, und ich bereute es augenblicklich.
    »Caroline, verzeih mir!«
    »Verschwinde«, sagte sie.
    »Bitte!«
    »Verschwinde! Verlass augenblicklich mein Haus!«
    Ich blickte nicht zu Betty hinüber, nahm aber trotzdem ihren Gesichtsausdruck wahr: peinlich berührt, beunruhigt und voller Mitleid. Ich wandte mich um, tastete nach der Tür und ging blindlings die Treppen hinunter und über den Kies zum Auto . Anne sah meine Miene und sagte mitfühlend: »Kein Erfolg? Es tut mir ja so leid!«
     
    Schweigend fuhr ich uns nach Lidcote zurück – und musste mir endlich eingestehen, dass ich gescheitert war. Schlimm war nicht allein das Wissen, dass ich Caroline verloren hatte, viel schlimmer war es mir einzugestehen, dass ich eine Chance hatte, sie zurückzugewinnen, und diese Gelegenheit vertan hatte. Als ich mich wieder erinnerte, was ich zu ihr gesagt hatte – was ich da angedeutet hatte –, schämte ich mich bis ins Mark. Doch im tiefsten Herzen ahnte ich, dass die Scham bald vorübergehen und meine Qualen wiederkehren würden. Wahrscheinlich würde ich dann wieder nach Hundreds fahren und etwas noch viel Schlimmeres sagen. Um also die Sache unwiderruflich zu machen, fuhr ich, nachdem ich Anne nach Hause gebracht hatte, gleich zu den Desmonds weiter und teilte ihnen mit, dass Caroline und ich uns getrennt hätten und die Hochzeit abgesagt worden sei.
    Zum ersten Mal hatte ich diese Tatsache so deutlich ausgesprochen, und es fiel mir leichter, als ich es erwartet hätte. Bill und Helen waren betroffen und teilnahmsvoll. Sie boten mir ein Glas Wein und eine Zigarette an und erkundigten sich, wer noch alles davon wisse. Ich erwiderte, sie seien mehr oder weniger die Ersten; mir sei es jedoch durchaus recht, wenn sie die Neuigkeit weitererzählen würden. Je eher alle davon wüssten, desto besser, sagte ich.
    »Besteht denn gar keine Hoffnung mehr?«, fragte Helen, als sie mich zur Tür brachte.
    »Nein, ich fürchte nicht«, erwiderte ich mit einem entschuldigenden Lächeln, das ihr hoffentlich suggerierte, dass ich mich mit der Trennung abgefunden hätte, ja womöglich sogar den Eindruck erweckte, dass Caroline und ich den Entschluss gemeinsam gefasst hätten.
    Lidcote verfügt über drei Pubs. Ich verließ die Desmonds, als sie gerade öffneten, und kehrte in jeden für einen Drink ein. Im letzten kaufte ich eine Flasche Gin zum Mitnehmen – das einzig Hochprozentige, was sie dahatten –, und dann stand ich wieder in meiner Arzneiausgabe und kippte mir den Alkohol hinein. Diesmal blieb ich jedoch hartnäckig nüchtern, egal wie viel ich auch trank, und als ich mir Carolines Bild vor Augen rief, geschah das mit merkwürdig klarem Kopf. Es war gerade so, als hätten die Exzesse der letzten Tage meine Fähigkeit erschöpft, intensive Gefühle zu empfinden.
    Ich verließ die Arzneiausgabe und ging nach oben. Mein Haus, das mir in letzter Zeit so fragil und vergänglich vorgekommen war wie ein Bühnenbild, schien sich nun mit jedem Schritt zu verfestigen und selbstbewusst seine trostlosen Farben und hässlichen Formen zu zeigen. Doch nicht einmal das deprimierte mich mehr. Fast als wolle ich

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