Der Besucher - Roman
Mädchen leidtun, die dort leben müssen. So viele düstere Flure und Treppenaufgänge. Als ich klein war, haben wir immer gesagt, dass es dort spukt; das war aber gar nicht so. Heute dagegen wäre es gut möglich: Mein Vater ist nämlich in dem Haus gestorben, und er hasste die katholische Kirche von ganzem Herzen … Von den Veränderungen auf Standish haben Sie doch bestimmt schon gehört?«
Ich nickte. »Ja. Meine Patienten haben mir das eine oder andere erzählt.«
Standish war ein benachbarter Landsitz, ein elisabethanisches Herrenhaus, dessen Familie, die Randalls, England verlassen hatte, um ein neues Leben in Südafrika zu beginnen. Das Haus hatte zwei Jahre lang leer gestanden, war jedoch vor kurzem verkauft worden, an einen Mann aus London, einen gewissen Peter Baker-Hyde. Er war Architekt, arbeitete am Wiederaufbau Coventrys und hatte Standish als ländliches Refugium gewählt, da er sich von der »ruhigen Lage und dem ungewöhnlichen Charme« angezogen fühlte.
»Ich habe gehört, dass er eine Frau, eine kleine Tochter und zwei teure Autos hat«, sagte ich, »aber keine Pferde oder Hunde. Und er soll sich im Krieg sehr verdient gemacht haben, irgendwo in Italien. Jedenfalls hat es ihm wohl nicht zum Schaden gereicht. Es klingt, als habe er schon eine ganze Menge Geld für die Renovierungsarbeiten am Haus ausgegeben.«
Ich sprach mit einer Spur von Bitterkeit, denn leider profitierte ich bisher kein bisschen von dem neuen Reichtum auf Standish. Erst in dieser Woche hatte ich erfahren, dass sich Mr. Baker-Hyde und seine Frau bei einem meiner Konkurrenten, Dr. Seeley, als Patienten registriert hatten.
Caroline lachte: »Er ist doch Stadtplaner, oder? Wahrscheinlich wird er Standish abreißen und dort eine Rollschuhbahn bauen. Oder vielleicht verkaufen sie das Haus auch an die Amerikaner. Die lassen es dann in Einzelteilen nach Amerika verschiffen und bauen es dort wieder auf, so wie sie es schon mit der Warwick Priory gemacht haben. Es heißt, man kann einen Amerikaner dazu bekommen, jeden morschen Balken zu kaufen, wenn man ihm bloß erzählt, er käme aus dem Wald von Arden und Shakespeare hätte mal draufgeniest.«
»Wie zynisch du bist!«, sagte ihre Mutter. »Ich finde, es klingt so, als wären die Baker-Hydes ganz reizende Leute. Es gibt in unserer Grafschaft heutzutage so wenig wirklich nette Leute, wir sollten lieber dankbar sein, dass sie Standish übernommen haben. Wenn ich daran denke, was aus all den Landsitzen geworden ist, dann fühle ich mich manchmal völlig allein auf weiter Flur. Umberslade Hall zum Beispiel, wo der Vater des Colonels immer zum Jagen ging: Da wohnen heute lauter Sekretärinnen. Woodcote steht ganz leer, ich glaube, Meriden Hall ebenfalls. Charlecote und Coughton sind jeweils der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden …«
Sie hatte in klagendem Tonfall gesprochen, seufzte nun tief und sah einen Moment lang so alt aus, wie sie tatsächlich war. Dann wandte sie den Kopf, und ihr Gesichtsausdruck veränderte sich.
Genau wie ich hatte sie das schwache Klappern von Geschirr und Teelöffeln draußen auf dem Korridor gehört. Sie legte eine Hand aufs Herz und sagte mit gespielter Besorgnis: »Da kommt die ›Skelett-Polka‹, so nennt mein Sohn das jedenfalls immer. Betty hat ein Händchen dafür, Tassen fallen zu lassen. Und allmählich geht uns das Porzellan aus …« Das Klappern wurde lauter, und Mrs. Ayres schloss die Augen. »Das ist zu viel für meine Nerven!« Dann rief sie durch die geschlossene Tür: »Pass bitte auf, Betty!«
»Ich pass auf, Madam«, kam es empört zurück, und im nächsten Augenblick erschien das Mädchen im Türrahmen. Mit gerunzelter Stirn und rot vor Verlegenheit manövrierte sie das große Mahagonitablett ins Zimmer.
Ich stand auf, um ihr zu helfen, doch Caroline war schneller. Mit geübtem Griff nahm sie dem Mädchen das Tablett ab, stellte es auf den Tisch und musterte es prüfend.
»Nicht ein Tropfen ist übergelaufen! Das ist bestimmt Ihnen zu Ehren geschehen, Herr Doktor. Hast du gesehen, dass wir Dr. Faraday zu Besuch haben, Betty? Er hat dich neulich mit einem Wundermittel geheilt, weißt du noch?«
Betty senkte verlegen den Kopf. »Ja, Miss.«
»Wie geht es dir, Betty?«, erkundigte ich mich mit einem Lächeln.
»Danke, Sir, mir geht’s gut.«
»Das freut mich. Gut siehst du aus, und so adrett!«
Ich hatte ganz ohne Hintergedanken gesprochen, doch ihr Gesicht verdüsterte sich ein wenig, als hätte sie mich in
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