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Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Waters
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dabei zufällig einen Blick auf die Fenster von Rodericks Zimmer. Er bemerkte mein Auto nicht, aber ich konnte ihn recht deutlich erkennen, während ich vorbeifuhr: Er saß an seinem Schreibtisch, die Wange in die Hand gestützt, und starrte auf die Papiere und geöffneten Bücher vor sich, als sei er ratlos und unendlich erschöpft zugleich.

3
     
     
     
     
     
     
    D anach wurde es mir zur Gewohnheit, sonntags auf Hundreds Hall vorbeizuschauen, um Rods Bein zu behandeln, und hinterher zum Tee bei seiner Mutter und seiner Schwester zu bleiben. Und als ich erst mal begonnen hatte, auf dem Weg zu meinen Hausbesuchen die Abkürzung durch den Park von Hundreds zu nehmen, war ich öfter in der Gegend. Ich freute mich immer auf die Besuche dort; sie bildeten eine willkommene Abwechslung zu meinem übrigen arbeitsreichen Alltag. Nie öffnete ich die Tore des Parks und schloss sie wieder hinter mir, ohne dabei einen kleinen abenteuerlichen Schauer der Erregung zu verspüren. Jedes Mal wenn ich die überwucherte Zufahrt hinter mir gelassen hatte und bei dem dahinbröckelnden roten Haus ankam, hatte ich das Gefühl, dass das normale Leben sich leicht geneigt hatte und ich in ein anderes, seltsames und irgendwie besonderes Reich gerutscht war.
    Inzwischen hatte ich die Familie Ayres auch um ihrer selbst willen schätzen gelernt. Caroline sah ich am häufigsten. Ich stellte fest, dass sie beinahe täglich im Park spazieren ging. Oft erblickte ich schon von weitem ihre unverkennbare Gestalt mit den langen Beinen und breiten Hüften, wie sie sich mit Gyp an der Seite einen Weg durch das hohe Gras bahnte. Wenn sie in der Nähe war, hielt ich meinen Wagen immer an und kurbelte das Fenster herunter, und wir hielten ein Schwätzchen. Sie schien immer mitten bei irgendeiner Arbeit zu sein; stets hatte sie eine Tasche oder einen Korb dabei, die mit Früchten, Pilzen oder Reisig gefüllt waren. Sie hätte eigentlich genauso gut die Tochter eines Bauern sein können, dachte ich, und je mehr ich vom Leben auf Hundreds mitbekam, desto mehr tat es mir leid, dass ihr Leben, genau wie das ihres Bruders, aus so viel Arbeit und so wenig Vergnügen bestand. Einmal schenkte mir ein Nachbar aus Dankbarkeit dafür, dass ich seinem Sohn über einen schweren Keuchhusten hinweggeholfen hatte, ein paar Gläser Honig aus seinem Bienenstock. Mir fiel wieder ein, dass Caroline bei meinem ersten Besuch im Herrenhaus Sehnsucht nach Honig bekundet hatte, deshalb gab ich ihr eines der Gläser. Für mich war das keine große Sache, doch sie schien hocherfreut, ja fast überwältigt von dem Geschenk, hielt das Glas in die Höhe, um das Sonnenlicht darin zu fangen, und zeigte es begeistert ihrer Mutter.
    »Ach, das wäre doch nicht nötig gewesen!«
    »Warum denn nicht?«, erwiderte ich. »Was soll denn ein alter Junggeselle wie ich damit?«
    Und Mrs. Ayres sagte leise, mit beinahe vorwurfsvollen Unterton: »Sie sind einfach zu nett zu uns, Dr. Faraday!«
    Doch tatsächlich waren meine Gefälligkeiten kaum der Rede wert; allein der Umstand, dass die Familie derart isoliert und in so unsicheren finanziellen Verhältnissen lebte, ließ sie jeden Stupser des Schicksals, egal ob gut oder schlecht, mit besonderer Stärke empfinden. Mitte September zum Beispiel, als ich Roderick schon fast einen Monat behandelt hatte, schlug der lange heiße Sommer endlich um. Ein gewittriger Tag führte zu einem Temperatursturz und zwei oder drei schweren Regengüssen; der Brunnen von Hundreds war gerettet, das Melken lief zum ersten Mal seit Monaten wieder problemlos, und Rods Erleichterung war so offenkundig, dass es fast schmerzte, ihn so zu sehen. Seine Stimmung hellte sich auf, ja seine ganze Haltung wurde optimistischer. Er verbrachte weniger Zeit an seinem Schreibtisch und sprach beinahe aufgekratzt darüber, welche Verbesserungen er auf der Farm durchführen wolle. Er heuerte ein paar Erntehelfer an. Und da die ohnehin schon wild wuchernden Rasenflächen rund ums Haus durch die Wetteränderung erst recht ins Kraut geschossen waren, beauftragte er Barrett, der auf dem Landsitz Gelegenheitsarbeiten verrichtete, sie mit der Sense zu mähen. Das Ergebnis war ein üppig grüner Rasen, sauber getrimmt wie ein frisch geschorenes Schaf. Gleich wirkte das Haus sehr viel glanzvoller, eher so, wie es eigentlich aussehen sollte und wie ich es von jenem Kindheitsbesuch vor dreißig Jahren in Erinnerung hatte.
     
    In der Zwischenzeit hatte sich auf dem nahe gelegenen Landsitz Standish

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