Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Waters
Vom Netzwerk:
halten, als ich das Auto verließ, um die Tore zum Park zu öffnen, und als ich von der matschigen Auffahrt auf die Kiesfläche bog, starrte ich das Herrenhaus mit einer gewissen Faszination an: Noch nie war ich so spät am Tag dort gewesen, und durch die ungleichmäßigen Umrisse sah es so aus, als würde das Haus mit dem rasch dunkler werdenden Himmel verschmelzen. Ich eilte die Treppe hoch und zog an der Klingel – inzwischen schüttete es wie aus Eimern. Niemand antwortete auf mein Klingeln. Die durchnässte Hutkrempe hing mir schon an den Ohren herab. Um mich vor dem Regen zu retten, öffnete ich schließlich selbst die Tür und trat ein.
    Es gehörte zu den Eigentümlichkeiten des Hauses, dass innen stets eine völlig andere Atmosphäre herrschte als draußen. Das Geräusch des Regens wurde leiser, während ich die Tür hinter mir zuzog. Die Halle war mit sanftem elektrischem Licht erleuchtet, gerade hell genug, um den Glanz der frisch polierten Marmorböden hervorzuheben. Auf allen Tischen standen Vasen mit Spätsommerrosen und Chrysanthemen in Bronzetönen. Das Stockwerk über mir war schwach erleuchtet, das darüberliegende noch düsterer, so dass die Treppe ins Halbdunkel emporzusteigen schien. Durch die Glaskuppel im Dach fiel das letzte Abendlicht, und die Kuppel schien in der Dunkelheit über mir zu schweben wie eine große durchsichtige Scheibe. Es war vollkommen still. Nachdem ich den durchnässten Hut abgenommen und mir das Wasser von den Schultern gestrichen hatte, blieb ich einen Moment lang in der Mitte der Halle auf dem polierten Boden stehen und blickte nur nach oben.
    Dann ging ich weiter, den Südflur entlang. Der kleine Salon war geheizt und beleuchtet, aber leer; doch als ich weiterging, sah ich helles Licht aus der geöffneten Tür zum achteckigen Saal fallen und ging dorthin. Beim Klang meiner Schritte fing Gyp an zu bellen; gleich darauf kam er auf mich zugetollt und wollte gehätschelt werden. »Roddie, bist du das?«, hörte ich Caroline rufen.
    Ihre Stimme klang angespannt. Zaghaft rief ich zurück: »Ich bin es nur, Dr. Faraday. Ich habe einfach selbst die Tür geöffnet und bin reingekommen. Ich hoffe, ich komme nicht ungelegen. Bin ich viel zu früh dran?«
    Ich hörte sie lachen. »Nein, überhaupt nicht. Wir sind viel zu spät dran, das ist das Problem. Kommen Sie doch her; ich kann nämlich gerade nicht weg hier.«
    Wie sich herausstellte, stand sie auf der obersten Stufe einer kleinen Trittleiter an der hinteren Wand des Saales. Zuerst war mir gar nicht klar, warum, denn ich war wie geblendet von dem Saal selbst. Schon als ich ihn im Halbdunkel mit verhüllten Möbeln gesehen hatte, war der Raum beeindruckend gewesen, doch nun waren all die zierlichen Sofas und Stühle von ihren Laken befreit, und der Kronleuchter – wahrscheinlich einer jener Lüster, die Bettys Blasen verursacht hatten – strahlte wie ein Leuchtfeuer. Auch ein paar kleinere Lampen brannten, und das Licht spiegelte sich in den zahllosen vergoldeten Zierelementen auf Möbeln und Spiegeln und ließ den grellen Gelbton der Regency-Tapete umso stärker hervortreten.
    Caroline sah mich blinzeln und meinte: »Keine Sorge, Ihre Augen werden bald aufhören zu tränen. Legen Sie doch bitte den Mantel ab und nehmen Sie sich schon mal etwas zu trinken. Mutter zieht sich um, und Rod hängt noch mit irgendeinem Problem auf dem Hof fest. Aber ich bin hiermit fast fertig.«
    Nun wurde mir klar, was sie gerade machte: Sie war damit beschäftigt, die herabhängenden Ecken der gelben Tapete mit einer Hand voll Stecknadeln wieder an ihrer ursprünglichen Stelle zu befestigen, und arbeitete sich auf diese Weise langsam durch den ganzen Saal. Ich wollte ihr helfen, doch sie war schon dabei, die letzte Stecknadel in die Wand zu stechen, und so hielt ich lediglich die Holzleiter fest und bot ihr meine Hand beim Absteigen. Sie musste achtgeben und den Rocksaum anheben, denn sie trug ein langes Abendkleid aus blauem Chiffon, silberne Schuhe und Handschuhe; das Haar hatte sie sich an einer Seite mit einer paillettenverzierten Klammer hochgesteckt. Das Abendkleid war schon älter und stand ihr, um ehrlich zu sein, nicht besonders gut. Das Oberteil war zu eng für die Rundungen ihrer Brust, der tiefe Ausschnitt zeigte ihr hervorstehendes Schlüsselbein und die kräftige Halsmuskulatur. Sie hatte einen Hauch Lidschatten und Rouge aufgelegt, und ihr Mund wirkte durch das Rot des Lippenstifts beinahe unangenehm voll und groß. Tatsächlich

Weitere Kostenlose Bücher