Der Besucher - Roman
dachte ich, wie viel netter und natürlicher sie doch mit ungeschminktem Gesicht und in einem ihrer formlosen Röcke und einer Baumwollbluse wirkte und dass ich sie lieber so wie immer gesehen hätte. Doch in dem hellen, gnadenlosen Licht war ich mir meiner eigenen Unzulänglichkeiten nur zu deutlich bewusst. Während ich ihr von der Leiter half, sagte ich daher: »Sie sehen wunderbar aus, Caroline.«
Ihre rotgeschminkten Wangen wurden noch einen Ton dunkler. Sie wich meinem Blick aus und richtete ihre Antwort an den Hund:
»Und dabei hat er noch nicht mal einen Drink gehabt! Stell dir vor, Gyp, wie hübsch ich erst nach dem Genuss von ein oder zwei Cocktails aussehen werde!«
Ich merkte, dass sie sich unbehaglich fühlte und anders war als sonst, und schob es darauf, dass sie sich wahrscheinlich Sorgen machte, wie der vor ihr liegende Abend verlaufen würde. Sie zog an der Dienstbotenklingel, um Betty herbeizurufen, und man konnte das leise Knarren des Zugdrahtes hören, der sich, vor unseren Blicken verborgen, in der Wand bewegte. Dann führte sie mich zur Anrichte, auf der sie eine Reihe hübscher geschliffener alter Kristallgläser bereitgestellt hatte und eine – für die Einschränkungen der Zeit – durchaus eindrucksvolle Auswahl von Getränken: Sherry, Gin, italienischer Wermut, Magenbitter und Limonade. Ich hatte als kleinen Beitrag zur Feier eine halbe Flasche Navy Rum mitgebracht, und wir hatten uns gerade zwei kleine Gläser eingeschenkt, als Betty auf das Läuten der Glocke hin erschien. Auch sie war, wie alles andere im Haus, für den besonderen Anlass herausgeputzt worden: Kragen, Manschetten und Schürze strahlten blendend weiß, und ihr Häubchen war noch pompöser als sonst, mit einer gestärkten Rüsche, die emporragte wie die Waffel auf einem Eisbecher. Doch da sie unten damit beschäftigt gewesen war, die Sandwichplatten herzurichten, sah sie erhitzt und etwas gequält aus. Caroline hatte sie gerufen, um die Trittleiter wieder wegzuräumen, und sie lief hastig und nicht besonders anmutig hinüber und nahm die Leiter. Offenbar war sie zu schnell gewesen oder hatte das Gewicht der Leiter unterschätzt, jedenfalls hatte sie erst ein paar Schritte mit der Leiter zurückgelegt, als diese zu Boden krachte.
Caroline und ich fuhren zusammen, und der Hund fing an zu bellen.
»Gyp, gib Ruhe, du Idiot!«, fuhr Caroline ihn an. Dann wandte sie sich im gleichen gereizten Tonfall an Betty: »Was machst du denn da, um Himmels willen?«
»Ich mach gar nix!«, erwiderte das Mädchen und warf trotzig den Kopf zurück, so dass ihr Häubchen verrutschte. »Die Leiter is bloß wacklig. Alles in diesem Haus is wacklig!«
»Ach, sei doch nicht albern!«
»Ich bin nich albern!«
»Schon gut«, sagte ich beschwichtigend und half Betty dabei, die Trittleiter wieder aufzuheben und eine bessere Trageposition zu finden. »Schon gut. Es ist ja nichts kaputtgegangen. Geht es jetzt besser?«
Sie warf Caroline einen bösen Blick zu, trug jedoch die Leiter wortlos hinaus – und konnte dabei gerade noch Mrs. Ayres ausweichen, die soeben an der Tür erschienen war und das Ende der Aufregung mitbekommen hatte.
»Du meine Güte! Was für ein Tumult!«, sagte sie, während sie in den Saal trat. Dann hatte sie mich erblickt. »Dr. Faraday, Sie sind ja schon da! Und gut sehen Sie aus! Was müssen Sie bloß von uns halten?«
Beim Näherkommen fing sie sich wieder, setzte einen fröhlichen Gesichtsausdruck auf und reichte mir die Hand. Sie war in ein dunkles seidenes Abendkleid gekleidet wie eine elegante, französische Witwe. Um dem Kopf trug sie einen schwarzen Seidenschal, eine Art dünne Mantilla, die sie mit einer Kamee-Brosche am Hals geschlossen hatte. Während sie unter dem Kronleuchter herging, blinzelte sie mit zusammengekniffenen Augen nach oben.
»Wie erbarmungslos grell dieses Licht doch ist, nicht wahr? Ich glaube nicht, dass die Lampen früher so hell waren. Aber wahrscheinlich waren unsere Augen damals bloß noch jünger … Caroline, Liebling, lass dich mal anschauen.«
Caroline schien sich nach der Unstimmigkeit über die Leiter noch viel unbehaglicher zu fühlen als vorher. Sie posierte wie ein Mannequin und sagte mit aufgesetzter Mannequin-Stimme, die allerdings schrill und unsicher klang: »Kann ich so gehen? Ich weiß, deinen hohen Ansprüchen genügt es nicht ganz!«
»Ach, Unsinn«, erwiderte ihre Mutter. Ihr Tonfall erinnerte mich an den Annes. »Du siehst sehr gut aus. Zieh dir nur die
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