Der Besucher - Roman
Nacken und blickte nach oben. Wieder war die Decke bruchlos und ziemlich unauffällig – abgesehen davon, dass der »Fleck«, den er vorher gesehen hatte, inzwischen erheblich dunkler geworden war.
Und in diesem Moment, so sagte er, sei ihm bewusst geworden, dass in seinem Zimmer wirklich irgendetwas Unheimliches am Werk war. Er hatte die Manschettenknöpfe mit eigenen Augen fallen sehen und hatte gehört, wie sie gegen die Schüssel geknallt und dann ins Wasser gefallen waren. Aber woher um alles in der Welt konnten sie heruntergefallen sein? Er zog seinen Lehnstuhl heran und stieg unsicher darauf, um die Decke aus näherer Entfernung zu betrachten. Abgesehen von dem seltsamen dunklen Fleck konnte er nichts erkennen. Es war gerade so, als wären die Manschettenknöpfe aus dem Nichts aufgetaucht. Er stieg schwerfällig wieder vom Sessel herunter – sein Bein fing jetzt an ihm wehzutun – und schaute wieder in die Schüssel auf seinem Waschtisch. Die weißliche Seifenschicht schloss sich bereits wieder über der Wasseroberfläche. Er hätte bloß den Hemdsärmel zurückschieben und die Hand hineinzutauchen brauchen, um die Manschettenknöpfe herauszufischen. Doch er brachte es nicht über sich. Er wusste nicht, was er tun sollte. Er dachte wieder daran, wie wir in dem hell erleuchteten Saal auf ihn warteten: Seine Mutter und seine Schwester, die Desmonds, die Rossiters, die Baker-Hydes und selbst ich und Betty – alle warteten wir, warteten auf ihn, mit Sherrygläsern in der Hand, und da brach ihm der Schweiß aus. Aus dem runden Rasierspiegel blickte ihm sein Gesicht entgegen, und er sah, wie die Schweißperlen sich aus seinen Poren drängten »wie die Würmer«.
Nun aber geschah das Bizarrste von allem. Er betrachtete immer noch sein schwitzendes Gesicht im Spiegel, als er mit ungläubigem Entsetzen feststellte, dass der Rasierspiegel zu beben begann. Es handelte sich um einen alten viktorianischen Rasierspiegel, ein rundes geschliffenes Spiegelglas in einem kippbaren Messingrahmen auf einem Porzellansockel. Er war, wie ich selbst wusste, ziemlich schwer, kein Gegenstand, der so leicht herunterfallen würde, wenn er versehentlich angestoßen oder von Schritten auf dem Fußboden in Erschütterung versetzt wurde. Rod stand vollkommen reglos in dem stillen Zimmer und sah zu, wie der Rasierspiegel noch einmal bebte, dann leicht zu schwanken begann und sich allmählich, Millimeter für Millimeter, über den Waschtisch auf ihn zubewegte . Es war gerade so, als würde der Spiegel laufen – oder vielmehr, als ob er gerade in diesem Moment seine Fähigkeit zum Laufen entdeckt hätte. Er bewegte sich in einer zögerlichen, ruckenden Gangart, wobei die nicht glasierte Unterseite des Porzellansockels ein grässliches knirschend-quietschendes Geräusch auf der polierten Marmoroberfläche des Waschtischs machte.
»Es war das Abscheulichste, was ich je gesehen habe«, sagte Rod mit zitternder Stimme und wischte sich den Schweiß ab, der sich abermals auf seiner Lippe und Stirn gebildet hatte. »Es war vor allem deshalb so schrecklich, weil der Spiegel ein derart alltäglicher Gegenstand war. Wenn … Ich weiß auch nicht … aber ich glaube, wenn plötzlich irgendein Ungeheuer im Zimmer aufgetaucht wäre, ein Gespenst oder sonst eine Erscheinung, dann hätte ich den Schrecken womöglich besser verkraftet. Aber das – es war entsetzlich, es war falsch . Man hatte das Gefühl, als ob alles um einen herum, selbst die gewöhnlichsten Dinge, sich im nächsten Moment in Gang setzen und einen überwältigen könnten. Doch was dann geschah …«
Was dann geschah, war noch schlimmer. Die ganze Zeit über hatte Rod zugesehen, wie der Spiegel seinen bebenden Weg über den Waschtisch auf ihn zumachte, starr vor Entsetzen über das, was er mir gegenüber das »Falsche« nannte. Mit »falsch« meinte er vor allem, dass er den Eindruck hatte, der Spiegel handele irgendwie fremdbestimmt, nicht aus eigenem Antrieb. Der Spiegel war, Gott weiß wie, plötzlich lebendig geworden, doch Rod hatte das Gefühl, dass er einzig durch reine, rücksichtslose Bewegung angetrieben wurde. Er war sich sicher, dass der Spiegel, sollte er, Rod, ihm die flache Hand in den Weg legen, sich schon mit seinem Porzellanfuß beharrlich einen Weg über seine Finger bahnen würde. Natürlich legte Rod die Hand nicht dorthin. Im Gegenteil, er wich zurück. Doch er sah, dass der Spiegel sich nun der Kante des Marmorwaschtischs näherte, und verspürte eine
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