Der Besucher - Roman
fünf Jahren das Leben kosten sollte. Der wachsende Tumor, der rasch um sich greifende Krebs, das Auge, das sich umwölkt: Sie alle gehören ebenso zur Arbeit eines Hausarztes wie Hautausschläge und Knochenbrüche, doch ich habe mich nie daran gewöhnen können. Nie habe ich die ersten, sicheren Anzeichen dieser tödlichen Krankheiten diagnostizieren können, ohne bestürzt zu sein und mich zugleich ohnmächtig zu fühlen.
Und dieses Gefühl von Ohnmacht befiel mich auch jetzt, als ich Rod zuhörte, wie er seine seltsame Geschichte erzählte. Ich bin mir nicht sicher, wie lange er brauchte, denn er sprach nur zögernd und widerwillig und legte immer wieder Pausen ein, als schrecke er vor den grässlichen Einzelheiten seiner Erzählung zurück. Die meiste Zeit über schwieg ich, und als er fertig war, saßen wir gemeinsam in dem stillen Zimmer. Ich blickte mich in dieser vertrauten, fassbaren Umgebung um – der Ofen, die Verkaufstheke, die Instrumente und Glasgefäße mit ihren verblichenen Etiketten, auf denen man noch die Handschrift des alten Gill lesen konnte: Mist. Scillae, Pot. Iod. –, und plötzlich kam mir alles irgendwie fremd vor, alles ein wenig aus dem Lot geraten.
Rod beobachtete mich. Er wischte sich das Gesicht ab, dann rollte er sein Taschentuch zu einer Kugel zusammen, knetete sie mit den Fingern und sagte: »Sie wollten es ja hören. Ich habe Sie schließlich vor dieser widerlichen Geschichte gewarnt.«
Ich räusperte mich. »Ich bin sehr froh, dass Sie es mir erzählt haben.«
»Wirklich?«
»Ja, natürlich. Ich wünschte nur, Sie hätten es schon eher getan. Es bricht mir das Herz, wenn ich mir vorstelle, dass Sie das alles die ganze Zeit über mit sich allein ausgemacht haben, Rod.«
»Das musste ich doch. Um meiner Familie willen.«
»Ja, das verstehe ich.«
»Und Sie urteilen auch nicht zu hart über mich wegen des Mädchens? Ich schwöre bei Gott, wenn ich das gewusst hätte …«
»Aber nein. Niemand kann Sie dafür verantwortlich machen. Ich würde jetzt bloß gern eines tun. Ich würde Sie gern mal untersuchen, wenn ich darf.«
»Mich untersuchen? Warum?«
»Ich vermute, Sie sind ziemlich müde, nicht wahr?«
»Müde? Das ist gar kein Ausdruck! Ich bin zum Umfallen kaputt. Ich traue mich nachts kaum mehr, die Augen zu schließen. Ich habe Angst, dass dieses Ding dann wiederkehrt.«
Ich hatte mich erhoben, um meine Tasche zu holen, und wie auf ein Signal hin zog er gehorsam Pullover und Hemd aus. Er stand in Unterhemd und Hosen auf dem Kaminvorleger, am Handgelenk den schmuddeligen Verband, und rieb sich die Arme, um die Kälte zu vertreiben. Er wirkte erschreckend dünn, verletzlich und jung. Ich untersuchte ihn kurz, hörte ihn ab, maß seinen Blutdruck und so weiter. Doch ehrlich gesagt tat ich das vor allem, um ein wenig Zeit zu gewinnen, denn ich sah durchaus – und das hätte wohl jeder –, welcher Art sein Problem wirklich war. Was er mir erzählt hatte, erschütterte mich zutiefst, und ich musste mir überlegen, wie ich weiter mit ihm verfahren sollte.
Wie schon vermutet, hatte er keine offensichtlichen gesundheitlichen Probleme, abgesehen davon, dass er unterernährt und übermüdet war, und das galt sicher für die halbe Nachbarschaft. Ich ließ mir Zeit damit, meine Instrumente wegzuräumen, während ich nachdachte. Er knöpfte sich das Hemd wieder zu.
»Und?«
»Sie haben es ja schon selbst gesagt, Rod: Sie sind erschöpft. Und Erschöpfung … nun, Erschöpfung kann die merkwürdigsten Auswirkungen haben. Sie spielt uns manchmal Streiche.«
Er runzelte die Stirn. »Streiche?«
»Hören Sie, Rod«, erwiderte ich. »Ich kann nicht so tun, als würde mich das, was Sie mir gerade erzählt haben, kaltlassen. Im Gegenteil, es beunruhigt mich sehr. Ich will kein Blatt vor den Mund nehmen: Ich denke, Ihr Problem ist psychischer Natur. Ich vermute … Hören Sie doch bitte, Rod.« Wütend und enttäuscht hatte er sich halb abgewandt. »Ich denke, das, was Sie da erlebt haben, lässt sich am ehesten als eine Art Nervensturm bezeichnen. So etwas kommt bei Menschen, die unter großem Druck stehen, häufiger vor, als Sie vielleicht glauben. Und seien wir ehrlich – Sie haben unter einem enormen Druck gestanden, seit Sie aus der Air Force ausgeschieden sind. Ich vermute, dass dieser Druck, im Zusammenhang mit einem Kriegstrauma …«
»Kriegstrauma!«, sagte er verächtlich.
»Ein verzögertes Kriegstrauma. Das kommt ebenfalls sehr viel häufiger vor, als man meinen
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