Der Besucher - Roman
schreckliche Faszination dabei, ihm bei seinem schwankenden Gang in Richtung Abgrund zuzusehen. Rod verharrte an seinem Platz, etwa einen Meter von der Kante entfernt. Der Spiegel wanderte weiter, bis erst ein kleines Stück seines Sockels und dann noch eines über die marmorne Kante ragte. Es schien ihm, als suchte das Ding nach einer neuen Oberfläche: Er sah, wie der Spiegel sich neigte, während sich der Sockel noch weiter über die Kante schob und zu kippen begann. In einem unwillkürlichen Impuls, den Fall aufzuhalten, streckte Rod tatsächlich sogar noch die Hand aus. Doch als er das tat, schien der Spiegel sich plötzlich »zum Sprung bereit« zu machen – und im nächsten Moment hatte er sich an Rods Kopf geworfen. Rod wandte sich noch ab, spürte jedoch den heftigen Schmerz hinter seinem Ohr. Er hörte das Splittern von Glas und Porzellan, als der Spiegel hinter ihm auf dem Boden schlug. Er drehte sich um und sah, wie die Scherben ganz unschuldig auf dem Boden lagen, als sei der Spiegel einfach nur von einer ungeschickten Hand umgestoßen worden.
Und genau in diesem Augenblick kehrte Betty zurück. Sie klopfte an die Tür, worauf Rod in seiner Anspannung erschrocken aufschrie. Verwirrt von dem lauten, schrillen Schrei, schob Betty zaghaft die Tür auf und sah, wie Rod, gelähmt vor Entsetzen, den zerbrochenen Gegenstand auf dem Boden anstarrte. Es war kaum verwunderlich, dass sie zu ihm ging und die Scherben aufheben wollte. Doch dann nahm sie seinen Gesichtsausdruck wahr. Er erinnerte sich hinterher nicht mehr genau, was er zu ihr gesagt hatte, doch er klang vermutlich ziemlich wirr, denn sie verließ das Zimmer augenblicklich wieder und eilte in den Salon zurück – das war der Moment gewesen, als ich sie nervös etwas in Mrs. Ayres Ohr hatte flüstern sehen. Mrs. Ayres ging sofort mit ihr zu Roderick zurück und merkte gleich, dass etwas ganz und gar nicht stimmte. Er schwitzte stärker als je zuvor und zitterte wie im Fieber. Vermutlich hatte er so ähnlich ausgesehen wie gerade, als er mir diese Geschichte erzählt hatte. Als er seine Mutter sah, war sein erster Impuls, sich wie ein kleines Kind an ihre Hand zu klammern. Doch er besann sich immerhin so weit, sagte er, dass er begriff, dass er sie in keiner Weise in diese seltsamen Vorgänge mit hineinziehen durfte. Er hatte gesehen, wie ihm der Rasierspiegel an den Kopf gesprungen war: Er war nicht von irgendeinem blinden Impuls gesteuert worden, sondern Rod hatte gespürt, dass der Spiegel von einer ungeheuer bösartigen Entschlossenheit angetrieben wurde. Er wollte auf keinen Fall, dass seine Mutter dem ausgesetzt wurde. Daher erklärte er ihr verworren und bruchstückhaft, dass er sich bei der Arbeit auf dem Hof übernommen habe, und sagte, er habe so heftige Kopfschmerzen, dass er das Gefühl habe, der Kopf würde ihm gleich zerspringen. Er war so offensichtlich krank und durcheinander, dass sie mich schon holen wollte, doch das gestattete er nicht; er wollte bloß, dass sie sein Zimmer so schnell wie möglich wieder verließ. Die etwa zehn Minuten, die sie bei ihm verbracht hatte, gehörten, wie er sagte, zu den schrecklichsten seines Lebens. Die Anstrengung, vor ihr zu verbergen, was er gerade erlebt hatte, verbunden mit der Angst, bald wieder allein zu sein und alles womöglich noch einmal durchmachen zu müssen, führten wahrscheinlich dazu, dass er wie ein Verrückter wirkte. Einmal wäre er beinahe in Tränen ausgebrochen – und nur der bestürzte Gesichtsausdruck seiner Mutter gab ihm, wie er sagte, die Kraft, sich zusammenzureißen. Als seine Mutter und Betty sein Zimmer verlassen hatten, setzte er sich mit angezogenen Knien und dem Rücken zur Wand auf das Bett in der Zimmerecke. Sein verletztes Bein schmerzte, doch das störte ihn nicht – er war beinahe froh über den Schmerz, weil der ihn wach hielt. Denn nun musste er, wie er sagte, aufpassen und Wache halten. Er musste jeden einzelnen Gegenstand im Auge behalten, jede dunkle Ecke und jeden Schatten. Rastlos musste er den Blick von einer Oberfläche zur nächsten wandern lassen, denn er wusste genau, dass das heimtückische Ding, das versucht hatte, ihm zu schaden, immer noch dort bei ihm im Zimmer war und nur auf die nächste Gelegenheit wartete.
»Das war das Schlimmste daran«, sagte er. »Ich spürte, dass es mich hasste, wirklich hasste, jenseits aller Logik oder Vernunft. Ich wusste, dass es mir übelwollte. Es war viel schlimmer als bei jedem Kampfeinsatz. Dort sieht man
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