Der Besucher - Roman
wir, wie viel Anstrengung es kostet, einfach nur zu leben. Einfach nur zu leben, schon unter ganz normalen Umständen – ganz zu schweigen davon, wie es ist, wenn dann noch Kriege dazukommen oder die Verantwortung für Grundbesitz und Landgüter und was weiß ich nicht noch alles … Die meisten Menschen scheinen sich allerdings zu guter Letzt einigermaßen durchzuwursteln …«
Ich wandte mich langsam zu ihm um. Er blickte mich mit jämmerlicher Miene an, protestierte aber nicht. Sein ganzer Körper wirkte ungeheuer angespannt; er atmete durch die Nase und hatte die Lippen fest aufeinandergepresst. Sein Gesicht war leichenblass. Selbst die gespannte, weiche Haut seiner Narben hatte ihre Farbe verloren. Nur das verblassende gelbgrüne Hämatom über seinem Auge stach hervor; und seine Wangen waren nass, vom Schweiß oder vielleicht auch von Tränen. Doch er schien über das Schlimmste hinweg zu sein und wurde allmählich ruhiger. Ich trat zu ihm hin, holte meine Zigarettenschachtel hervor, und er nahm dankbar eine Zigarette an, obwohl er sie mit beiden Händen festhalten musste, als er sie zum Mund führte und ich ihm Feuer gab.
Als er die erste zitternde Rauchwolke ausstieß, fragte ich mit ruhiger Stimme: »Was ist los, Rod?«
Er wischte sich über das Gesicht und senkte den Kopf. »Nichts ist los. Alles ist wieder in Ordnung.«
»In Ordnung? Schauen Sie sich doch an!«
»Es ist bloß die Belastung; der Druck, immer obenauf zu bleiben. Es will, dass ich nachgebe! Aber ich werde nicht nachgeben. Und das weiß es und strengt sich immer mehr an.«
Er wirkte immer noch atemlos und sprach in gepeinigtem Tonfall, gleichzeitig aber auf seltsam gemessene, wohlüberlegte Weise, und diese merkwürdige Verquickung von Angst und Vernunft in seinem Reden und Verhalten ging mir an die Nerven. Ich kehrte zurück zu meinem Stuhl, und nachdem ich mich gesetzt hatte, fragte ich noch einmal ruhig: »Was ist los? Ich weiß, dass etwas nicht stimmt. Wollen Sie es mir nicht erzählen?«
Er blickte mich an, jedoch ohne den Kopf zu heben. »Das würde ich ja gern«, sagte er kläglich, »aber um Ihretwillen ist es besser, wenn ich es nicht tue.«
»Wieso denn das?«
»Es könnte Sie … infizieren.«
»Mich infizieren? Vergessen Sie nicht: Ich habe täglich mit Infektionen zu tun.«
»Aber nicht mit so etwas.«
»Wieso, worum handelt es sich denn?«
Er senkte den Blick. »Es ist eine ganz widerliche Sache.«
Er verzog angeekelt das Gesicht, und beim Zusammentreffen der Wörter »Infektion« und »widerlich« dämmerte mir plötzlich, worum es sich bei seinem Problem handeln könnte. Ich war dermaßen überrascht und betroffen, aber gleichzeitig auch erleichtert, dass sich seine Notlage als eine so banale erweisen sollte, dass ich mir ein Lächeln verbeißen musste.
»Also das ist es, Rod! Mein Gott, warum sind Sie denn nicht eher zu mir gekommen!«
Er blickte mich verständnislos an, und als ich deutlicher wurde und klarmachte, was ich meinte, brach er in ein bitteres, geradezu unheimliches Lachen aus.
»Du lieber Gott«, sagte er und wischte sich über das Gesicht. »Wenn es bloß so einfach wäre! Und was meine Symptome anbelangt, die ich Ihnen beschreiben soll …« Seine Miene verdüsterte sich. »Sie würden mir sowieso nicht glauben, wenn ich das tue.«
»Versuchen Sie es doch bitte«, drängte ich ihn.
»Ich habe doch schon gesagt, dass ich es ja gern würde.«
»Also, wann sind sie zum ersten Mal aufgetreten, Ihre Symptome?«
»Wann? Was glauben Sie denn? An dem Abend, als diese unglückselige Feier stattfand.«
Ich hatte es schon die ganze Zeit geahnt. »Sie hatten Kopfschmerzen, hat Ihre Mutter erzählt. Hat es so angefangen?«
»Die Kopfschmerzen waren gar nichts. Ich habe das bloß gesagt , um das andere zu verbergen, das, was wirklich passiert ist.«
Ich sah, wie er mit sich rang. »Nun erzählen Sie’s mir schon, Rod«, sagte ich.
Er fasste sich an den Mund und schob nervös die Unterlippe zwischen die Zähne. »Wenn es nun herauskommen sollte …«
Ich missverstand ihn. »Ich gebe Ihnen mein Wort, ich werde es niemandem erzählen.«
Das beunruhigte ihn erst recht: »Nein, das dürfen Sie nicht! Sie dürfen es auf keinen Fall meiner Mutter oder meiner Schwester erzählen.«
»Nicht, wenn Sie es nicht wollen.«
»Sie haben doch vorhin gesagt, Sie wären eine Art Priester, erinnern Sie sich? Ein Priester muss Geheimnisse bewahren, oder? Sie müssen es mir versprechen!«
»Ich verspreche es,
Weitere Kostenlose Bücher