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Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Waters
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rief er, und sie suchte einige Zeit mit ihm gemeinsam, schaute überall nach, wo er auch schon gesucht hatte, fand aber ebenfalls nichts. Schließlich war er so frustriert von der ganzen Angelegenheit, dass er ihr »leider wohl mit ziemlich scharfen Worten« sagte, sie solle ihn in Ruhe lassen und lieber wieder zu seiner Mutter zurückgehen. Als sie weg war, gab er die Suche auf. Er ging zu seiner Schublade und versuchte aus den vorhandenen normalen Tageskragen etwas Festliches zu improvisieren. Hätte er geahnt, dass die Baker-Hydes so zwanglos gekleidet waren, hätte er sich wahrscheinlich weniger Sorgen gemacht. Aber so wie die Dinge lagen, sah er nur das enttäuschte Gesicht vor sich, das seine Mutter ziehen würde, wenn er den Salon »wie ein schlampiger Schuljunge« betreten würde.
    Dann geschah etwas noch viel Seltsameres. Während er wütend seine Schubladen durchwühlte, hörte er hinter sich im leeren Zimmer plötzlich ein Geräusch. Es klang wie ein Platschen, leise, aber unverkennbar, so dass er sofort vermutete, dass wohl etwas vom Waschtisch irgendwie in die Schüssel gefallen sein musste. Er wandte sich um – und traute seinen Augen kaum: Das, was da in die Wasserschüssel gefallen war, war der lang gesuchte Kragen.
    Sofort schoss er durchs Zimmer und fischte ihn heraus. Dann stand er mit dem Kragen in der Hand da und fragte sich, wie so etwas überhaupt hatte geschehen können. Der Kragen hatte nicht auf dem Waschtisch gelegen, da war er sich ganz sicher. In der Nähe war auch keine andere Fläche, von der er heruntergerutscht sein konnte – abgesehen davon gab es auch nichts, was sein Herunterrutschen hätte verursachen können. Über dem Waschtisch befand sich nichts, woran der Kragen hätte hängen und dann herabfallen können – keine Lampe und keinerlei Haken –, mal ganz abgesehen von der Frage, wie ein steifer weißer Kragen überhaupt unbemerkt dort hätte hinaufgelangen können. Das Einzige, was da war, so erzählte er, war ein kleiner, unscheinbarer Fleck oben an der Stuckdecke über seinem Kopf.
    Zu diesem Zeitpunkt war er zwar verwirrt, behielt aber durchaus noch die Nerven. Der Kragen war tropfnass vom Seifenwasser, doch ein nasser Kragen erschien ihm immer noch besser als gar kein Kragen. Daher trocknete er ihn ab, so gut es ging, stellte sich dann vor den Kommodenspiegel, um ihn an sein Hemd zu knöpfen und sich eine Fliege zu binden. Danach musste er nur noch seine Manschetten schließen und sich das Haar kämmen und mit Brillantine frisieren, dann wäre er fertig. Er öffnete den kleinen Elfenbeinbecher, in dem er seine Manschettenknöpfe aufbewahrte, und stellte fest, dass dieser leer war.
    Das, sagte er, sei so absurd und ärgerlich gewesen, dass er lachen musste. Er hatte die Manschettenknöpfe an jenem Tag zwar nicht mit eigenen Augen gesehen, war aber just an jenem Morgen aus Versehen mit der Hand gegen den Becher gestoßen und konnte sich noch genau erinnern, dass er darin das Klappern von Metall gehört hatte. Seitdem hatte er den Becher nicht mehr angerührt. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Betty oder Mrs. Bazeley die Manschettenknöpfe herausgenommen hatten oder dass Caroline oder seine Mutter gekommen waren und sie weggeräumt hatten. Warum hätten sie das tun sollen? Er blickte sich kopfschüttelnd um und richtete dann ein ernstes Wort in die Stille des Zimmers hinein – an die Parzen oder Geister oder was immer es war, das heute Abend seine Spielchen mit ihm trieb. »Ihr wollt nicht, dass ich auf die Feier gehe?«, sagte er. »Dann hört mal genau zu: Ich will es auch nicht. Doch leider geht es hier nicht ums Wollen, fürchte ich. Also gebt mir endlich die verfluchten Manschettenknöpfe wieder!«
    Er schloss den Becher und stellte ihn an seinen Platz neben Kamm und Rasierpinseln zurück; und just in dem Moment, als er die Hand wieder zurückzog, sah er im Kommodenspiegel, wie etwas Kleines, Dunkles hinter ihm im Zimmer herabfiel, wie eine Spinne, die sich von der Decke herablässt. Gleich darauf hörte er das Klingen von Metall gegen Porzellan, ein Geräusch, das in dem ruhigen Zimmer so laut klang, dass es ihm Angst und Schrecken einjagte. Er drehte sich um und ging mit dem wachsenden Gefühl, dass das alles nicht sein konnte, langsam zum Waschtisch hinüber. Da, am Grunde der Porzellanschüssel, lagen seine Manschettenknöpfe. Der Waschtisch selbst war bespritzt, und das seifentrübe Wasser in der Schüssel schwappte noch hin und her. Er legte den Kopf in den

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