Der Beutegaenger
Geräusch ihrer Schritte. Nur ihr Atem war zu hören, viel zu laut zu hören, wie ihrschien, aber sie wusste nicht, wie sie das ändern sollte. Ihr Herz hämmerte von innen gegen die Rippen und verlangte gierig nach Nahrung, nach Sauerstoff. Sie wusste, jeder Versuch, leiser zu atmen, würde ihr nichts als Seitenstechen eintragen. Ihr rechter Fuß rutschte über eine Wurzel, die quer über den Weg lief und wie eine versteinerte Schlange aussah. Sie fluchte und stolperte weiter. Das fehlte noch, dachte sie, an einem Tag wie diesem hinzufallen und nicht aus eigener Kraft wieder aufstehen zu können!
Der Weg führte jetzt einen steilen Abhang hinunter, an dessen Fuß ein Bach den Parcours kreuzte. Von dort schlug ihr dumpfe Herbstkühle entgegen. Kein Lüftchen regte sich. Es war, als hielte der Wald ringsum urplötzlich den Atem an. Zugleich schien das schummrige Nachmittagslicht noch schwächer zu werden. Zwischen den Bäumen, die hier unten kaum mehr als düstere Schemen waren, hingen feine Nebelschwaden, die der Landschaft einen schwebenden Gesamteindruck verliehen. Und obwohl sie den Parcours im Schlaf kannte, hatte Susanne Leistner auf einmal Angst, die Orientierung zu verlieren.
Das Tempo drosseln, rief sie sich zur Ordnung. Auf den Beinen bleiben. Nur keinen Sturz riskieren. Zugleich kam ihr ein altes Volkslied in den Sinn, das ihre Mutter manchmal gesungen hatte. In einem kühlen Grunde . Sie nickte still vor sich hin. Eine sentimentale kleine Geschichte war das gewesen, von enttäuschter Liebe und Todessehnsucht. Der genaue Text wollte ihr nicht mehr einfallen, nur die Melodie. Oder zumindest Teile davon. Ich möcht’ am liebsten sterben ... Hieß es nicht so, irgendwo in einer der letzten Strophen? Ich möcht’ am liebsten sterben, da wär’s auf einmal still . . .
Sie überquerte die kleine Holzbrücke und hörte das entfernte Gurgeln des Bachs. In ihren Lungen brannten feine, schmerzhafte Stiche. Das hatte sie jetzt davon, dass sie schnellerlief, als ihr guttat, und dabei auch noch versuchte, sich an ein dummes altes Lied zu erinnern! Aber wenigstens stieg nun endlich der Weg wieder an und führte sie hinaus aus dem düsteren Tal. Hinaus aus dem kühlen Grunde. Etwa zweihundert Meter vor ihr tauchten hinter der nächsten Biegung bereits die Holzgestelle für die Klimmzüge auf , die sie nie machte. Entschlossen rannte sie darauf zu. Von dort war es nicht mehr weit bis zum Parkplatz. Sie freute sich auf einmal unbändig auf die Wärme ihres Autos und die Tasse Tee, die sie sich machen würde, sobald sie nach Hause kam. Was wohl Amelie gerade tat, in diesem Augenblick? Zu Abend essen? Die kleinen Häppchen aus Roggenbrot mit dem Rahmkäse, den sie so gern hatte? Susanne Leistner lächelte. Wieder stieß ihr Fuß gegen eine Wurzel, aber sie strauchelte nicht. Jetzt nicht mehr. Sie würde das Laufen reduzieren. Und Enrico nicht wiedersehen. Der Gedanke erfüllte sie mit Erleichterung. Er barg eine Chance. Die Chance auf ein Zuhause...
Als sie die Klimmstangen hinter sich gelassen hatte, zog sie noch einmal das Tempo an. Der letzte Teil des Parcours führte auf einen breiten, gut geschotterten Waldweg, der auch mit Forstfahrzeugen befahrbar war. Zu beiden Seiten des Wegs hatte man junge Tannen gepflanzt. Einige von ihnen waren so zart, dass sie mit Drahtgittern geschützt werden mussten. Ob sie den unaufhaltsam nahenden Winter überleben würden? Kaum, dachte Susanne Leistner und richtete den Blick wieder auf die Strecke, die vor ihr lag.
In einiger Entfernung kam ihr vom Parkplatz her jemand entgegen.
Unwillkürlich zuckte sie zusammen. Sicher, sie begegnete oft anderen Menschen, wenn sie allein im Wald lief. Anderen Joggern hauptsächlich. Doch die Person, die jetzt auf sie zukam, lief nicht. Sie ging ruhig und langsam, mit hoch erhobenem Kopf. Susanne kniff die Augen zusammen. Vielleichtlag es am Wetter und an der Tageszeit, dass ihr die Vorstellung, jemand könne einen Waldspaziergang machen, so absurd vorkam. Irgendwie ... Sie stutzte und suchte eine Weile nach dem passenden Wort... Irreal, dachte sie. Ja, irgendwie unwirklich.
Die Gestalt bewegte sich im Rhythmus ihrer Schritte auf und ab.
Sie trug einen hellen Mantel.
Als sie näher herankam, stellte Susanne erleichtert fest, dass es eine Frau war.
Auf dem Heimweg hielt Winnie Heller nacheinander bei einem Supermarkt, einem Blumenladen und einer Zoohandlung, bevor sie mit mehreren Tüten in der Hand und einer lachsfarbenen Rose
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