Der Beutegaenger
zu und ließ sich auf einen billigen grasgrünen Plastikstuhl fallen, um ihren Mitbewohnern beim Fressen zuzusehen. Nach einer Weile stand sie auf und holte ihr eigenes Abendessen, das zur Feier des Tages aus einer Dose Diätcola, einem üppig mit Käse und Schinken belegten Sandwich und drei extragroßenMüsliriegeln bestand. Rosine. Waldbeere. Und der absolute Clou: Vollnuss. Winnie Heller pustete sich eine verirrte Haarsträhne aus der Stirn und entzündete die Kerze in der Mitte des Tisches, die in einem zierlichen Kristallhalter steckte, einem Geschenk ihrer verstorbenen Großmutter zu ihrem achtzehnten Geburtstag. Vornehm geht die Welt zugrunde, dachte sie und sah wieder nach ihrem Aquarium. Sollte sie die Wurzel noch heute Abend einsetzen? Sie könnte sich mal wieder die Füße baden. Die Haare tönen. Noch eine Cola trinken und dabei einen alten Ufa-Film ansehen. Andererseits verspürte sie das dringende Bedürfnis, ihren unerwarteten Erfolg mit jemandem zuteilen. Darüber zu sprechen. Und sie wusste auch schon, mit wem. Sie warf einen Blick auf die Uhr. Eigentlich war es viel zu spät... Aber wer wollte sie aufhalten, ausgerechnet sie, Winnie Heller, die neue Starermittlerin vom KK 11?
Entschlossen stand sie auf, blies die Kerze aus und stellte ihren benutzten Teller in die Spüle. Die Mangrovenwurzel würde bis morgen warten müssen.
»Es ist vielleicht kein guter Zeitpunkt, aber ich habe etwas mit dir zu besprechen.«
»Was denn?« Verhoeven schob den Teller mit Tomatenvierteln beiseite, die er für den gemischten Salat zurechtgeschnitten hatte, und sah seine Frau an. Sie waren bei seinen Schwiegereltern im vornehmen Langen gewesen und hatten Nina abgeholt, die nun erschöpft im Wohnzimmer saß und einen Trickfilm schaute, während ihre Eltern das Abendessen vorbereiteten.
Silvies Finger zupften gedankenverloren an einem Salatblatt. »Ich hatte letzte Woche einen Termin bei Dr. Meinhardt.«
Er zog verwundert die Augenbrauen hoch. Klaus Meinhardt war Silvies früherer Professor. Sie hatte Jura studiert und kurz vor dem ersten Staatsexamen gestanden, als sie mit Nina schwanger geworden war.
»Es würde alles anerkannt«, sagte sie jetzt.
»Was würde anerkannt?«
»Meine Scheine von damals. Ich bräuchte zwei, maximal drei Semester und könnte mich dann um eine Referendariatsstelle bemühen.«
»Du willst wieder studieren?«
»Warum nicht?« In ihrem Blick lag etwas, das er noch nie an ihr gesehen hatte. Etwas, das ihm das irrationale Gefühl gab, verraten worden zu sein. Abgeschoben. Ausgebootet.
»Und was ist mit Nina?«, fragte er, so ruhig er konnte.
»Was soll mit ihr sein?« Jetzt wurde ihr Tonfall herausfordernd. »Sie ist vier Jahre alt. Sie liebt ihre Tagesstätte. Wo ist das Problem?«
»Das Problem ist, dass sie bei anderen Leuten aufwächst«, versetzte er schärfer als beabsichtigt. »Dass sie den ganzen Tag in einem Hort verbringt, anstatt mit ihrer Mutter zu spielen. Dass sie ...«
»Du befindest dich in einem Ausnahmezustand.« Silvie stand auf und begann, Toastscheiben und Pumpernickel in den flachen Brotkorb zu schichten. »Ich hätte nicht davon anfangen sollen. Nicht heute.«
»Das ist nicht der Punkt«, versetzte er ärgerlich.
»Und was genau ist der Punkt?«
»Der Punkt ist, dass du deinen persönlichen Ehrgeiz über das Wohl unserer Tochter stellst.«
Sie ließ die Gabel, die sie in der Hand gehalten hatte, auf die Arbeitsplatte fallen und drehte sich um. »Was?«
»Weißt du, was ich glaube?«, entgegnete er, ohne auf ihre Frage einzugehen. »Ich glaube, der wahre Grund für diese Schnapsidee ist, dass du ein Problem mit deiner Schwester hast.«
In ihren Augen lag ein gefährliches Funkeln. Er hatte einen Nerv getroffen. »Was zum Teufel hat Madeleine damit zu tun?«
Er antwortete nicht, sondern starrte wütend auf die Tischkante hinunter. Er konnte Silvies Schwester nicht ausstehen und hegte den dringenden Verdacht, dass es seiner Frau nicht viel anders ging. Madeleine Leonidis war schlicht und ergreifend eine von vorn bis hinten unangenehme Person. Sie war schön, sie war geistreich, und sie verfügte über eine Energie, die normale Menschen schwindeln machte. Sie hatte vier gut geratene Kinder, einen überaus erfolgreichen und noch dazu unverschämt gut aussehenden Ehemann und war dem Vernehmen nach drauf und dran, in ihren alten Beruf als Anästhesistin in einer Frankfurter Privatklinik zurückzukehren. Obendrein fand sie noch genügend Zeit,
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