Der Beutegaenger
Reitstunden zu nehmen und sich ehrenamtlich bei der Deutschen Schlaganfallgesellschaft zu engagieren.
Ausgerechnet!
Verhoeven schloss die Augen und dachte wieder an seinen Pflegevater. Er hatte ihn nur ein einziges Mal besucht, kurz nachdem Schmitz in das hektische graue Pflegeheim gekommen war, das nicht den allerbesten Ruf genoss. Da hatte er fremd ausgesehen. Die wulstigen Lippen, die früher so mühelos Worte wie Schlampe oder Hosenpisser geformt hatten, waren stumm und schlaff geblieben. Nur ein Auge hatte Verhoeven angeblickt. Von unten. Hilfe suchend beinahe. Was ist mit mir geschehen, Junge? Verhoeven konnte sich genau an die Antwort erinnern, die er auf diese unausgesprochene Frage gegeben hatte. Was dir gebührt . Er hatte ganz leise gesprochen,wie zu sich selbst, und doch war sein Pflegevater unter der Erbarmungslosigkeit dieser drei Worte zusammengezuckt wie ein geprügelter Hund. Sein Gesicht war noch röter geworden, und seine Augen hatten wieder die niedrige Zimmerdecke gesucht, die aus grauen, gelöcherten Gipsplatten bestand. Verhoeven hatte sich oft vorgestellt, wie Schmitz diese Löcher zählte, während er auf die Schwester wartete, die nicht kam, weil sie unterbezahlt war und sich schon lange mit der Tatsache abgefunden hatte, nicht an mindestens drei Orten gleichzeitig sein zu können. Er hatte sich vorgestellt, wie die winzigen Schweinsäuglein seines Pflegevaters von Loch zu Loch glitten, wie sie mit akribischer Gründlichkeit jedes einzelne von ihnen ins Visier nahmen, wie sie hier und da verharrten, um eine Träne der Anstrengung aus den kurzen Wimpern zu zwinkern, und dann weiterwanderten. So lange, bis das lädierte Gehirn vergessen hatte, wie viele Löcher es bereits gewesen waren, und Schmitz von vorn beginnen musste. Wieder und wieder. Tag für Tag. Was dir gebührt . Zu keinem Zeitpunkt hatte Verhoeven Mitleid mit seinem Pflegevater empfunden, im Gegenteil: Ein Schlaganfall war ihm durchaus angemessen erschienen für einen Mann, der wie ein Tyrann geherrscht hatte. Aber seit letzter Woche, seit Grovius’ Tod, wusste er ein für alle Mal, dass es so etwas wie Gerechtigkeit in der Welt nicht gab. Zwei so unterschiedliche Männer, dachte er. Zwei so gegensätzliche Leben. Und am Ende hat sie beide der Schlag getroffen.
»Los doch, antworte mir«, forderte seine Frau ihn indessen erneut und mit nur mühsam im Zaum gehaltener Wut auf. »Was hat meine Schwester mit meiner Entscheidung zu tun?«
»Aha!«, rief er, und es klang nach Spott, obwohl er sich zutiefst verletzt fühlte. »Jetzt ist es also schon eine Entscheidung.«
»Es ist mein Leben«, entgegnete Silvie leise, aber bestimmt.
Er stand auf und schleuderte das Handtuch, das er zum Schutz seiner Hose über die Knie gebreitet hatte, auf den Tisch. »Was willst du damit sagen? Dass ich nichts damit zu tun habe? Und Nina? Was ist es, das du dein Leben nennst?«
Sie sah ihn an. Lange. Prüfend. Als er es nicht mehr aushielt, nahm er seinen Teller und kippte die Tomatenviertel in den Mülleimer. »Du hattest recht«, sagte er. »Es ist kein guter Zeitpunkt.« Dann griff er nach seinem Jackett, das über der Stuhllehne hing, und ging zur Tür. »Warte nicht auf mich.«
Gernot Leistner betrachtete den Hinterkopf seiner Tochter. Amelie saß in ihrem Kinderzimmer auf dem Teppich und spielte mit Holzbauklötzchen. Sie schien völlig in sich versunken zu sein und gab nur hin und wieder ein paar unverständliche, aber durchaus zufriedene Laute von sich.
Seit einiger Zeit fiel Gernot auf, dass seine Tochter ihre Bauklötze nie stapelte, um »Türmchen« zu bauen, sondern dass sie sie stets nebeneinander auf den Boden legte, wodurch die Holzklötze ein buntes Muster bildeten. Er hatte sich schon oft gefragt, was dies bedeuten konnte und was Amelie sich dabei dachte. Sein Blick streifte über ihren zarten Nacken. Langsam wurde nun auch ihr Haar etwas kräftiger. Susanne hatte bereits Sorge geäußert, weil Amelies blonde Löckchen noch immer so fein wie kurz nach der Geburt waren. Aber jetzt wurden sie eindeutig kräftiger, das musste er seiner Frau nachher gleich erzählen.
Er sah auf die Uhr. Zehn Minuten nach sieben. Eigentlich hätte sie längst zu Hause sein müssen. Immerhin hatte sie seit über drei Stunden Feierabend. Gedankenverloren strichen seine Finger über das Fell des hellblauen Plüschhunds, derneben ihm auf dem Boden lag. Ihre Joggingschuhe und die Sporttasche waren nicht da, also hatte sie vorgehabt, laufen
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