Der Beutegaenger
Hintergrund zurückgezogen hatte und fröstelnd von einem Bein auf das andere trat. Zugleich hatte er auf einmal das Gefühl, an einem weit entfernten Ort zu sein. Das Geschehen um ihn herum von oben zu betrachten. Mit Abstand. Fastwie damals, dachte er verwundert. Wenn der Mann, den er nur Schmitz genannt hatte, wieder einmal begonnen hatte, sich zu verändern. Wenn sich die Röte in seinem Gesicht aus einem Grund, den nur Schmitz selbst gekannt hatte, langsam vertieft hatte. Und wenn seine Stimme dann jenen unbarmherzig schneidenden Tonfall angenommen hatte, den Verhoeven noch heute hören konnte, sobald er sich – was selten vorkam – gestattete, den Blick auf seine Vergangenheit zu richten. Was heulst du schon wieder, du kleiner Scheißer? In solchen Situationen hatte es schon damals einen Punkt gegeben, an dem er sich von jedem realen Geschehen entfernt hatte. Einen Punkt, an dem es ihm gelungen war, ganz aus sich selbst heraus einen gewissen Abstand zu seinem Pflegevater herzustellen, eine Distanz, die selbst die Schläge, die in solchen Situationen unweigerlich gefolgt waren, nie völlig hatten überwinden können. Die Cellistin verschwamm unter seinem Blick zu einem dunkelgrünbraunen Fleck, und Verhoeven fühlte etwas wie Stolz auf diese Fähigkeit des Ausblendens, die ihm das mit Abstand Gesündeste zu sein schien, was er in der Rückschau auf seine Kindheit entdecken konnte. Er straffte die Schultern und schob das Kinn vor, das Silvie als niedlich und seine Schwiegermutter weit weniger freundlich als ganz und gar unmännlich bezeichnete.
Er wusste, er würde nicht weinen.
Das, was hier passierte, hatte nichts mit ihm zu tun. Nicht einmal mit Grovius.
Grovius würde laut lachen, wenn er das hier sehen könnte, dachte er.
Rings um das Grab herrschte jetzt eine Art emotional aufgeladenes Schweigen. Fast schien es, als wisse niemand so ganz genau, was nun zu tun sei. Hinnrichs war zu Ende. Das Cello verstummt. Die Bilanz war gezogen, der Schlussstrich unter ein Leben, das Verhoeven geteilt hatte. Zumindest eineZeitlang. Er sah wieder auf seine Schuhspitzen hinunter und überlegte, welche Bilanz Grovius selbst wohl gezogen haben würde. Wäre er zufrieden gewesen mit dem Leben, das er geführt hatte? Versöhnt? Oder hätte er empfunden, dass er um etwas Entscheidendes gebracht worden war? Er wusste es nicht. Grovius hatte selten über seine Pensionierung gesprochen, und wenn, dann hatte er das Wort Ruhestand bewusst vermieden. Nächstes Jahr, hatte er gesagt. Wenn ich nächstes Jahr mehr Zeit habe, werde ich mir als Erstes die Toskana ansehen. Und ich meine, richtig ansehen, verstehst du? Nicht die Uffizien und den Ponte Vecchio. Den ganzen Rest...
Verhoeven fühlte, wie der Abstand, auf den er noch vor wenigen Sekunden so stolz gewesen war, zu schmelzen begann. Wie er zurückkehrte. Abstürzte aus der Höhe, in die er sich geflüchtet hatte. Er stürzte, und die alte Verletzlichkeit kroch ihn an. Unterdessen waren die Menschen in seiner Umgebung wie auf ein geheimes Kommando hin auf einmal in Bewegung geraten. Manche drehten sich einfach auf dem Absatz um und gingen den breiten Kiesweg zum Hauptausgang hinunter, als seien sie heilfroh, eine leidige Verpflichtung endlich hinter sich gebracht, eine alte Schuld beglichen zu haben. Die anderen reihten sich in die Schlange vor Grovius’ Grab ein, um einen letzten Blick auf den Sarg zu werfen.
»Hendrik?«
Sie hatte leise gesprochen. Behutsam. Trotzdem zuckte er zusammen. »Was?«
Anstelle einer Antwort hielt Silvie ihm die kleine Schaufel hin, mit der die Trauernden Erde in das offene Grab streuten. Mechanisch nahm er sie und trat einen Schritt vor. Tief unter sich sah er den Sarg. Er hörte das Geräusch, das die Erdklumpen machten, als sie auf das glänzende Mahagoni trafen. Ulla hatte sich nicht lumpen lassen. Schließlich war Grovius dereinzige Exmann gewesen, den sie je gehabt hatte. Verhoeven zögerte. Versuchte, den Augenblick auszudehnen, den Moment des endgültigen Abschiednehmens noch ein paar Sekunden hinauszuzögern. Ein letzter Gruß. Ein letzter Blick auf den Sarg. Dann fühlte er Ullas Umarmung, die sich wie ein Bleigürtel um seine Schultern legte. Roch den Cognac, den sie getrunken hatte, um sich für diesen düsteren Nachmittag zu wappnen, der ihr endgültig bewusst machte, dass sie den einzigen Exmann, den sie je besessen hatte, nicht mehr würde anrufen können, wenn sie nicht weiterwusste. Wenn sie Hilfe brauchte. Kein Navigator
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