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Der Beutegaenger

Titel: Der Beutegaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Roth
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zwischen den Lippen die fünf Treppen zu ihrem kleinen Einzimmerapartment in der Innenstadt hinaufstieg. Sie war nicht dick, hatte aber, gemessen an den gängigen Schönheitsidealen, gut fünfzehn Kilo zu viel auf den Rippen. Einzig um ihre üppige Oberweite wurde sie hin und wieder beneidet, auch wenn sie selbst die geballte Pracht eher als lästig denn als angenehm empfand und sie, wo immer es ging, unter weiten Pullovern oder Sweatshirts zu verbergen suchte.
    Sie schloss die Tür auf und wuchtete ihre Einkäufe auf den Tisch, der ihr sowohl als Essplatz wie auch als Schreibtisch diente und der zugleich das einzige Möbelstück von guter Qualität war, das sie je besessen hatte. Ansonsten kultivierte sie einen Einrichtungsstil, den man, zumindest was das Mobiliar betraf, durchaus als provisorisch bezeichnen konnte. Schrankbett, Sperrholzregale und eine Küchenzeile aus beklebtemKunststoff in Buchenoptik, die durch eine monströse Arbeitstheke vom Rest des Raumes abgetrennt war. Das meiste davon hatte sie gegen eine symbolische Ablösesumme von ihrem Vormieter, einem Medizinstudenten, übernommen. Das dreiunddreißig Quadratmeter kleine Apartment verfügte über ein kleines Fenster, das nach vorn hinausging, und einen winzigen Freisitz, ebenfalls zur Straße. Dort saß sie an langen Sommerabenden, halb im Zimmer, halb unter freiem Himmel, trank ein Feierabendbier und las einen Roman oder schaute in die Sterne über der Stadt. Von Zeit zu Zeit beobachtete sie auch die Männer, die tief unter ihr die umliegenden Kneipen und Bordelle verließen, wobei sie sich geflissentlich bemühte, ihre beiden gut gemeinten, aber völlig verwahrlosten Blumenkästen zu übersehen, die, einem traurigen Mahnmal gleich, vor ihr an dem rostigen Geländer hingen.
    Nachdem sie der Rose Wasser gegeben und den verderblichen Teil ihrer Einkäufe im Kühlschrank unter der Arbeitstheke verstaut hatte, wandte sich Winnie Heller der letzten Tüte zu, die noch auf dem Tisch stand. Andächtig, als nähme sie eine geheimnisvolle rituelle Handlung vor, streifte sie das Plastik ab und zog die Mangrovenwurzel hervor, eine echte selbstverständlich, nicht eines von diesen billigen Kunststoffimitaten, die man überall sah. Zwar war die Versetzung zur Mordkommission nicht gleichbedeutend mit einer Gehaltserhöhung, aber ein Tag wie dieser schrie geradezu danach, alle Vernunft außen vor zu lassen und ordentlich über die Stränge zu schlagen. In letztere Kategorie gehörte auch die Haartönung in sündigem Kupfergold, die hinter ihr auf der Arbeitstheke stand und der sie nach sorgfältiger Abwägung ihrer Zugehörigkeit zum Farbtyp »Herbst« den Vorzug gegenüber einem ebenfalls sehr auffälligen, aber kühlen und somit eher für einen Sommer- oder Winter-Typ geeigneten Auberginenton gegeben hatte. In der Zoohandlung hingegen hatte sie eineWeile geschwankt zwischen der Mangrovenwurzel und diesem wahnsinnig grün beleuchteten Doppelvulkan, sich jedoch letztendlich für dreieinhalb Kilo sandstrahlgereinigter Natürlichkeit entschieden, nicht nur, weil der Vulkan satte zweiundzwanzig Euro teurer gewesen wäre, sondern auch, weil er ihren Lieblingen trotz seines stolzen Preises nur ein einziges, noch dazu neonlichtdurchflutetes Versteck geboten hätte.
    »Jetzt schaut doch mal, was Mama hier hat.« Sie stemmte die Mangrovenwurzel in die Höhe und hielt sie in Richtung des großen Aquariums, das auf einem wuchtigen Holzpodest mitten im Raum stand und den Rest des Zimmers in ein geheimnisvolles blaues Licht tauchte. »Ist das ein Ding? ... Na, das will ich doch wohl meinen! ... Was? ... Aber natürlich ist sie für euch. Wir haben nämlich richtig was zu feiern heute und ... Hey, mein Dicker ... Willst du mitfeiern?« Sie öffnete den Deckel und streute mit den Fingerspitzen etwas Trockenfutter ins Becken. Das teure selbstverständlich, Premium mit Goldrand und Extra-Spirulina. Schließlich war das hier so etwas wie eine Party. »Oh j aaa«, murmelte sie, als ihre Fische einer nach dem anderen zur Wasseroberfläche geschwommen kamen und nach den winzigen Futterteilchen schnappten, die langsam zu Boden schwebten. »Das ist es, Jungs. Mama geht zur Moko ... Was das sein soll?« Sie lächelte. »Na ja, das sind Eifersuchtsdramen, Wasserleichen, unbekannte Tote. Zu Tode gestürzte Schwiegermütter, aus Seen gefischte Torsos, Plastiksäcke mit Leichenteilen an einem Bahndamm. Kurz und gut: die ganze Palette des Grauens .. .« Behutsam klappte sie den Deckel wieder

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