Der Beutegaenger
irgendwann war ihr aufgefallen, dass auch die erneute Kontrolle nur ein vorübergehendes Gefühl von Sicherheit mit sich brachte und dass die Zweifel von Neuem begannen, sobald man außer Sichtweite war. Sie schüttelte den Kopf und tastete in der Tasche ihrer Steppj acke nach einem Taschentuch. Vor Kurzem hatte sie in einer Zeitschrift gelesen, dass es bald möglich sein sollte, von jedem Ort der Welt aus über ein Computerprogramm abzufragen, ob man etwa die Herdplatte ausgeschaltet oder den Wasserhahnzugedreht hatte. Aber natürlich konnte der Rechner abstürzen, sobald man in Spanien saß und wissen wollte, ob die Waschmaschine noch lief. Oder die Anzeige war fehlerhaft. Wer wollte so etwas beurteilen, von Spanien aus?
Als ihr bewusst wurde, wie typisch solche Überlegungen für sie waren, musste sie lächeln. Fräulein Zweihundertprozent , so hatte ihre Mutter sie immer genannt. Sie war vor acht Jahren gestorben und hatte ihrer Tochter dank zweier lukrativer Scheidungen und lebenslanger Sparsamkeit eine ansehnliche Summe Geldes hinterlassen. Damit hatte sich Tamara Borg nicht nur eine exklusive Eigentumswohnung in einer Architektenvilla auf dem Sonnenberg, hoch über der Stadt, gekauft, sondern sich nach zehn Jahren als Angestellte einer großen Buchhandelskette auch beruflich auf eigene Füße gestellt. Ihre kleine Buchhandlung lag in unmittelbarer Nähe zum Staatstheater und konnte sich mittlerweile dank ihrer hervorragenden Fachkenntnisse und eines betont individuellen Service recht gut gegen die etablierten Geschäfte behaupten.
Sie nahm wieder das Taschentuch und wischte sich damit flüchtig über die Augen. In den vergangenen Tagen war es recht kalt gewesen, auch wenn die Meteorologen für die Nachtstunden bereits das nächste Sturmtief angekündigt hatten, das dem Rheingau eine deutliche Milderung bescheren sollte. Noch allerdings war davon nichts zu spüren. Der eisige Fahrtwind biss ihr ins Gesicht und ließ ihre Augen tränen, aber sie mochte auch jetzt, in der kalten Jahreszeit, nicht darauf verzichten, mit dem Rad zur Arbeit zu fahren, was, abgesehen von einem unbestreitbaren gesundheitlichen Nutzen, angesichts der Parkplatzsituation in der Innenstadt ohnehin das Vernünftigste war. Sie drosselte das Tempo und stieg vom Rad, als sie die Alte Stiege erreichte, einen steilen, mit längeren Treppenabschnitten durchsetzten Weg, der vom Vorplatzeiner kleinen Kirche aus zickzackförmig den Hang hinaufführte. Auf diese Weise brauchte man nur knapp fünf Minuten für den Aufstieg, bedeutend weniger als über den Zubringer, weshalb die meisten Anwohner aus Tamara Borgs Gegend regelmäßig die Alte Stiege benutzten, wenn sie zu Fuß oder mit dem Rad unterwegs waren. Auf Drängen einer eigens zu diesem Zweck ins Leben gerufenen Bürgerinitiative hatte der Ortsverein vor wenigen Jahren für eine bessere Beleuchtung des Wegs gesorgt. In regelmäßigen Abständen waren halbhohe, kugelförmige Straßenlaternen angebracht worden, die ihr mattes Licht über die ausgetretenen Stufen gossen, sodass die Alte Stiege nun auch in der Dunkelheit gefahrlos zu begehen war.
Tamara Borg winkte einem älteren Herrn zu, den sie vom Sehen her kannte. Dann schob sie ihr Fahrrad den steilen Weg hinauf. Im Rucksack auf dem Gepäckträger befanden sich zwei Leseexemplare, mit denen sie es sich zu Hause gemütlich machen wollte. Den neuen Roman der vielversprechenden französischen Nachwuchsautorin hatte sie bereits mit Spannung erwartet, und wahrscheinlich würde sie sich damit die halbe Nacht um die Ohren schlagen. Sie blickte ein Stück den Hang hinauf und fluchte. Die Laterne an der nächsten Biegung war kaputt. Wo ihr Licht fehlte, gähnte beunruhigende Düsternis. Als Tamara Borg näher herankam, sah sie zersplittertes Glas, das rund um den Laternenpfahl auf dem Weg verstreut lag. Ärgerlich blieb sie stehen und schob die größten der Scherben mit dem Fuß beiseite, damit sich niemand daran verletzte. Wahrscheinlich hatten irgendwelche jugendlichen Vandalen ihren Aggressionen freien Lauf gelassen. Ausgerechnet hier, dachte sie. Und nun würde es mit Sicherheit wieder Monate dauern, bis die Lampe ersetzt wurde!
Seufzend schob sie ihr Rad um die Kurve und stutzte. Nur wenige Schritte von ihr entfernt kniete eine Frau auf den Stufen.Genauer gesagt, lag sie auf allen vieren und stützte sich mit den Händen auf dem Boden ab.
Tamara Borg blieb fast das Herz stehen vor Schreck. Automatisch blickte sie sich um, aber außer ihnen
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