Der Beutegaenger
Borgs Scheinwerfer sind verstummt.
Nicht!
Sein Kopf fuhr herum. Irgendwo in seinem Nacken knackte ein Wirbel. Es tat nicht weh. Nur dieses Geräusch. In seinen Ohren brüllte der Wind, während sein Blick ihre Lippen suchte, die noch genauso aussahen wie zuvor. Genauso tot. Aber was war ...? Zeitachsen, dachte er. Die Dinge überlagerten sich. Das taten sie manchmal. Augenblicke, die so bis zum Rand angefüllt waren mit Eindrücken, dass das Gehirn erst nach und nach verarbeitete, was die Sinne ihm an Reizen angeboten hatten.
Nicht!
Ihr letztes Wort. Dann war sie vor ihm auf die Knie gefallen und losgekrochen, in dem irrwitzigen, verzweifelten Bemühen, ihm zu entkommen. Auf allen vieren wie ein Baby. Er verzog angewidert das Gesicht, als sein Blick ihre nasse, vollkommen verdreckte Hose streifte. Sie hatte sich vollgepisst. Er sah den Fleck zwischen ihren Beinen selbst noch durch die Dunkelheit, die er erschaffen hatte. Der Gestank, der von ihrem leblosen Körper aufstieg, steigerte den Ekel, den er vor ihr empfand. Vor ihrer Schwäche. Schnell sah er wieder nach ihren Augen. In ihrem rechten Augenwinkel hing eine Träne. Noch im Tod, dachte er , weint dieses armselige Nichts um sich selbst.
Errichtete sich auf und lauschte in die Dunkelheit hinaus wie ein witterndes Tier. Er durfte sich nicht zu lange aufhalten!
Mit einiger Mühe warf er sie an der Stelle über das Geländer, an der es in der Kurve einen spitzen Winkel bildete. Er hatte die Stelle mit Bedacht gewählt. Dort gab es dichtes Strauchwerk, das auch unbelaubt einen guten Sichtschutz bot. Sicherheitshalber schleifte er sie noch ein paar Meter weit in das Dickicht hinein. Er hatte sich vorgenommen, vorsichtig zu sein, auch wenn eigentlich nur Tamara Borg so dumm war, nach Einbruch der Dunkelheit noch über die Alte Stiege zu gehen. Diese Dummheit war eines der Kriterien für ihre Auswahl gewesen.
Ist Ihnen nicht gut?
Er richtete ihren Körper aus, bis sie genau so lag, wie er sie haben wollte.
Kann ich Ihnen helfen?
Oh ja, du kannst mir helfen, flüsterte er dicht an ihrem Ohr. Du kannst mir helfen, eine alte Freundin zu überraschen. Sie hatte eine Katze, die sie liebte. Und weißt du, was die Katze tat? Er beugte ihren Kopf zurück. Die Katze brachte ihr tote Mäuse und legte sie vor ihre Terrassentür. Sie waren ein Geschenk, diese Mäuse, verstehst du. Ein Zeichen der Zuneigung. Liebespfänder. Er genoss es, wie das Wort aus seinem Mund pfiff. Die Ästhetik, die es ausstrahlte. Sprachmelodie. Vielleicht sollte er es zu einem dieser Wettbewerbe einreichen: »Schönstes vom Aussterben bedrohtes Wort«. Liebespfänder...
Oh ja, dachte er , Wörter haben Farben, und dieses ist hellgelb. Man kann mit Sprache malen wie ein Künstler mit einer Palette voller Farben. Eine weit vollkommenere Form des Ausdrucks, fand er , als der rein visuelle, der von einem Gemälde ausging. Die Augen waren so leicht zu täuschen. Die Augen. Ihre Augen . . .
Er zog das Messer aus der Tasche und setzte es direkt unter ihren aufgedunsenen Lidern an.
Möchtest du eine Maus sein, Tamara?
Ihr blaulippiges Einverständnis voraussetzend, machte ersich an die Arbeit.
Die alte Dame, die sich vom oberen Ende der Alten Stiege her näherte, bemerkte er nicht...
Ihr erster Gedanke war, dass irgendjemand einfach sein altes Fahrrad am Wegesrand entsorgt hatte, aber als Isolde Reisinger näher herankam, stellte sie fest, dass das Rad keineswegs alt war. Im Gegenteil: Es handelte sich um ein gepflegtes Damenfahrrad, das bestimmt nicht billig gewesen war. Es lehnte vollkommen ungesichert am Geländer auf der Talseite, obwohl eine stabile Sicherheitskette unterhalb des Sattels um den Rahmen geschlungen war. Auf dem Gepäckträger war ein großer Korb befestigt, in dem sich ein modischer Rucksack aus schwarzem Leder befand.
Isolde Reisinger blickte sich um. Weit und breit war niemand zu sehen. Die nächsten Häuser standen etwa zweihundert Meter entfernt, am unteren Ende der Alten Stiege. Hier, ungefähr auf der Mitte des Wegs, befand sich nichts, wo der Besitzer oder vielmehr die Besitzerin des Rades hingegangen sein konnte. Nachdenklich sah sie wieder das Fahrrad an. In einer lauen Sommernacht hätte sie vielleicht an ein Liebespaar gedacht, das sich irgendwo in der Nähe ein heimliches Stelldichein gab. Aber an einem windigen Novemberabend? Isolde Reisinger schüttelte den Kopf. Ebenso unwahrscheinlich war, dass jemand angehalten hatte und vom Rad gestiegen war, um
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