Der Beutegaenger
wollte: Gibt es noch etwas, das du haben möchtest? Ein paar Fotos vielleicht? Oder eine von diesen scheußlichen Plaketten, mit denen eure Truppe ihre Helden ehrt?«
Ein Projektil, dachte Verhoeven, die Kugel aus Grovius’ Weste. Laut sagte er: »Nein, danke.«
Seine Antwort schien sie zu überraschen. »Bist du sicher? Ich meine, es wäre ein Aufwasch und . ..«
»Vielen Dank«, wiederholte Verhoeven. »Ich habe alles, was ich brauche.«
»Ganz wie du meinst«, entgegnete Ulla kühl. »Aber ich werde Holger nicht kampflos überlassen, woran er keinerlei Rechte hat.«
»Ich wünsche dir viel Erfolg«, sagte Verhoeven und beendete das Gespräch, bevor sie noch etwas entgegnen konnte.
Verhoeven schob das Handy in seine Manteltasche zurück und betrachtete wieder die trostlosen Grabreihen. Er hatte das dringende Gefühl, dass ihm, was das Trauern betraf, noch etwas bevorstand. Ein Moment der Erkenntnis, ein Augenblick, in dem der neuerliche Schmerz eine alte Wunde zum Bluten bringen würde. Er hatte einfach noch keine Zeit gehabt, über alles nachzudenken. Das Ausmaß des Verlustes zu begreifen. Sich neu zu ordnen. Aber vielleicht würde der Schmerz auch im Laufrad des Alltags untergehen. Er wusste es nicht. Er musste die Entwicklung abwarten.
Unter seinem Blick trat unvermittelt seine Schwägerin, die vortreffliche Madeleine Leonidis, hinter dem Osterei-Grabstein hervor und lächelte siegesgewiss zu ihm herüber.
Wie ich höre, will Silvie wieder studieren ...
Hinter ihr erschienen gut geratene dunkelhäutige Kinder in allen erdenklichen Größen, und Madeleine bückte sich und nahm das Kleinste von ihnen behutsam auf den Arm.
Tja, das wird eine ziemliche Umstellung für dich werden, nicht wahr? Aber du hast doch nicht ernsthaft angenommen, es sei meiner Schwester vollkommen gleichgültig, was unsere Eltern von ihr halten, nur weil sie ein einziges Mal ihren Willen durchgesetzt und dich geheiratet hat . . .
Ihr Lächeln wurde breiter.
Hendrik?
Sie küsste das Kind und setzte es wieder auf dem Boden ab, ohne Verhoeven aus den Augen zu lassen.
Sag schon, hast du dir das alles so vorgestellt?
Verhoeven schüttelte unmerklich den Kopf. Nein, so hatte er sich die Sache ganz und gar nicht vorgestellt. Er wollte, dass seine Tochter ein Zuhause hatte. Ein richtiges Zuhause, in das sie gern zurückkehrte, wenn der Kindergarten oder die Schule zu Ende war. In dem jemand auf sie wartete, der sie liebte. Der ein Mittagessen gekocht hatte, ein richtiges Mittagessen. Nicht irgendwelche toten Tiere in Tomatensoße aus der Dose.
»Denken Sie, einer von denen hat es getan?«
Verhoeven zuckte zusammen. »Wie bitte?«
»Glauben Sie tatsächlich, dass einer dieser Leute ein Mörder ist?«, wiederholte Winnie Heller ihre Frage, indem sie zum Friedhof hinüberzeigte, wo die kleine Trauergesellschaft allmählich in Auflösung begriffen war.
»Ich hoffe es«, entgegnete Verhoeven und wandte den Blick von den dunkel gekleideten Gestalten ab, wieder dem Osterei zu. Doch Madeleine Leonidis und ihre Kinder waren verschwunden. »Denn wenn wir es hier nicht mit einer Beziehungstat zu tun haben, ist Susanne Leistner vermutlich nicht die Letzte gewesen . . . «
Der
blinde
scharlachrote Mohn
schreit blutend
über den sturmzerrissenen
Feldern meiner Seele
nach dir
immer nur
nach
dir
Montag, 13. November 2006
Wie so oft trieb Tamara Borg auf dem Nachhauseweg die Frage um, ob sie die Alarmanlage im Laden auch wirklich eingeschaltet hatte. Zwar war sie sich im Grunde sicher, den vierstelligen Zahlencode eingegeben und die Kontrolllampe aufleuchten gesehen zu haben, aber das konnte genauso gut gestern gewesen sein. Denn obwohl sie sich alle erdenkliche Mühe gab, die täglichen Routinehandgriffe ganz bewusst zu erledigen, damit sie eine fassbare Spur in ihrem Gedächtnis hinterließen, lief es letztendlich doch immer wieder auf die Frage hinaus, ob man nur glaubte , etwas getan zu haben, weil man es immer tat, oder ob man es auch tatsächlich getan hatte.
Sie warf einen kurzen Blick über ihre Schulter und bog dann in eine wenig befahrene Seitenstraße ein. In früheren Jahren wäre sie in einer solchen Situation zweifellos zurückgefahren und hätte nachgesehen. Sie konnte sich an zahllose Gelegenheiten erinnern, bei denen sie in ihren Laden, zu ihrer Wohnung oder zu ihrem Auto zurückgekehrt war, um zu kontrollieren, ob sie eine Tür verriegelt oder ein Fenster geschlossen hatte. Aber
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