Der Beutegaenger
beiden war niemand zu sehen.
Die Frau sah gepflegt aus. Sie hatte langes blondes Haar und trug einen hellen Mantel. Vielleicht war ihr schlecht geworden. Oder sie war in der Dunkelheit gestürzt. Die kaputte Straßenlaterne fiel ihr ein. Ja, dachte sie, das wäre durchaus möglich. Wenn man sich hier nicht auskannte ...
Sie lehnte ihr Rad an das Geländer auf der Talseite und trat vorsichtig an die Frau heran. »Ist Ihnen nicht gut?«, erkundigte sie sich behutsam. »Kann ich Ihnen helfen?«
Sie berührte die Unbekannte an der Schulter.
Die Frau zuckte nicht zusammen.
Die Berührung kam nicht überraschend für sie.
Sie hatte Tamara Borg erwartet.
Langsam drehte sie sich um.
Lore Simonis fror wie ein Schneider. Der Novemberabend war klirrend kalt, und die hauchzarte Bluse, die sie unter ihrem gut geschnittenen Tweedkostüm trug, vermochte sie ebenso wenig gegen die Kälte zu schützen wie der leichte Sommermantel, den sie anhatte. Aber leider hatte der Wintermantel farblich nicht besonders gut zu ihrem Kostüm gepasst, und sie achtete nun mal auf solche Dinge. Farben. Schnitte. Den Sitz einer Taille. Gut möglich, dass so etwas heutzutage nur noch eine untergeordnete Rolle spielte, aber sie war immer stolz auf ihr Auge und ihren guten Geschmack gewesen und weigerte sich kategorisch, ihre kompromisslosgelebten modischen Tugenden dem fortschreitenden Alter und dem damit einhergehenden Wunsch nach mehr Bequemlichkeit zu opfern. Sie wusste, sie durfte nicht verlieren, was sie gewesen war. Was sie ausgemacht hatte. Das ist der Tod, dachte sie. Sich selbst zu verlieren.
Sie streckte den Rücken, der ein wenig steif war vom langen Sitzen. Bis vor wenigen Minuten hatte sie in einem gemütlichen Wohnzimmer gesessen und – wie jeden Montagabend – mit Freude und Ausdauer Romm´e gespielt. Und sie hatte gewonnen! Ein zufriedenes Lächeln breitete sich über ihre feinen, schön geschwungenen Lippen, während ihre Finger mit den Plastikmünzen in ihrer Manteltasche spielten, ihrer Beute. Zugleich fühlte sie, wie der Schmerz in ihrem Rücken allmählich nachließ. Seit einiger Zeit wartete sie auf den Tag, an dem er ihr ständiger Begleiter bleiben würde, aber seltsamerweise wurde ihre Furcht vor diesem Tag stetig geringer. Natürlich hatte sie nach wie vor Angst vor dem Alter, dem richtigen Alter, jenem Augenblick, in dem man einsehen musste, dass man etwas, das einem am Herzen lag, nie mehr würde tun können. Doch die Angst wurde mit jedem Jahr schwächer, ohne dass sie ein Gefühl von Resignation in sich ausmachen konnte. Das ist auch eins von den Dingen, mit denen einen das Leben überrascht, dachte sie. Zu erkennen, dass man sich am Ende vielleicht doch ganz umsonst gefürchtethat.
»Eines Tages holst du dir eine Lungenentzündung und stirbst«, prophezeite Isolde Reisinger, die neben ihr ging, mit einem missbilligenden Seitenblick auf die zarten Schühchen ihrer alten Freundin. »Und der Arzt wird sagen: Bei Gott, das ist die älteste Leiche mit den elegantesten Schuhen, die mir je untergekommen ist. «
Lore Simonis blickte ihre Freundin arglos an. »Mir ist nicht kalt.«
Isolde Reisinger grinste. Dieses verfluchte alte Weib mit den entzückenden blauen Augen log unverfrorener als drei Dutzend Buchmacher. Unverfrorener . Ein schönes Wort in diesem Zusammenhang, dachte sie amüsiert. Fräulein Sommerschuh log und spielte so falsch, dass sich die Balken bogen.
»Willst du denn wirklich schon wieder zu Fuß gehen?« Lore Simonis kräuselte ihr Näschen und betrachtete die Sichel des Mondes, die kalt und weiß über dem Rheintal stand. Der Himmel war vollkommen klar, nur ein paar lose Wolkenfetzen aus Westen trieben als dunkle Schatten über den tintenblauen Horizont. Der Wind war in den letzten Stunden deutlich aufgefrischt und riss an ihrem lindgrünen Seidenschal. »Wirklich, ich verstehe nicht, warum du dir nicht wenigstens bei einem solchen Wetter ein Taxi rufst.«
Isolde Reisinger verdrehte die Augen. »Was ist verkehrt an diesem Wetter?«, fragte sie. »Es ist klar. Es ist trocken. Und die Luft riecht schon fast wieder nach Frühling.«
Lore Simonis bedachte sie mit einem nachsichtigen Lächeln. »Ich weiß, dass die Caf´es in diesem Land ihre Tische schon vor die Tür stellen, sobald es ein paar Tage nicht gefroren hat«, sagte sie. »Aber du bist achtundsiebzig Jahre alt, und es ist dunkel und windig und . ..«
»... und ich brauche vor dem Schlafengehen noch ein bisschen frische
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