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Der Beutegaenger

Titel: Der Beutegaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Roth
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Sonne trat, begann man zu frösteln.
    Sie saßen im Wagen und blickten über die niedrige Friedhofsmauer hinweg auf die kleine Trauergesellschaft, die sich am offenen Grab von Susanne Leistner versammelt hatte. Trotz des Sonnenscheins wirkte der Friedhof trostlos. Lange Reihen uniformierter Gräber säumten die abgezirkelten Wege. Der Stein des Nachbargrabs von Susanne Leistner erinnerte Verhoeven an ein überdimensionales Osterei. Er dachte an die Gespräche, die sie in den vergangenen Tagen geführt hatten, und aus irgendeinem Grund hatte er das Gefühl, dass sie sich abwärtsbewegten. Dass sie immer tiefer ins Tal gerieten, anstatt bergauf zu marschieren, zu einer höher gelegenen Stelle, von der aus sie sich einen Überblick verschaffen konnten. Eine Aussicht. Wir verzetteln uns, dachte er. Wir brauchen einen Punkt, an dem wir ansetzen können. Eine Unebenheit, an der wir uns festkrallen und hochziehen können. Einen Halt.
    Er kniff die Augen zusammen und versuchte, den Rücken der Trauernden die entsprechenden Gesichter zuzuordnen. Alles in allem waren etwa fünfunddreißig Personen erschienen. Die meisten davon hatten sie im Zuge ihrer Ermittlungen bereits kennengelernt. Einzig Enrico Grabner war dem Begräbnis taktvollerweise ferngeblieben, und auch Amelie fehlte. Eine vernünftige Entscheidung, dachte Verhoeven.
    Kindern sollten Beerdigungen grundsätzlich erspart werden. Hinter seiner Stirn flammten Bilder auf. Der billige Kiefernholzsarg, in dem sie seine Mutter begraben hatten. Das harte, faltige Gesicht der Frau von der Fürsorge. Ihre sehnige Hand vor dem unerträglich blauen Himmel. Das klapprige Bett im Heim, von unten aus betrachtet. Matratze. Rostige Federn. Ein Teller mit etwas Milchigweißem darauf, das angeblich ein Schnitzel sein sollte. Belanglosigkeiten. Er hatte oft versucht, andere Erinnerungen an seine Mutter aus den Tiefen seines Unterbewusstseins herauszugraben als ihren Sarg und die ordentlich auf Holzbügel gehängten Blusen im Schrank, die eine andere fremde Frau mit einer einzigen geübten Bewegung von der Kleiderstange gerissen und in einem großen Umzugskarton hatte verschwinden lassen. Die bekommen jetzt die Kinder in Bangladesch. Die freuen sich, wenn sie was Schönes zum Anziehen kriegen. Er hatte nicht die geringste Ahnung gehabt, wo das war, Bangladesch, aber er hatte verstanden, dass die Blusen seiner Mutter an einen Ort gebracht wurden, an den er ihnen nicht folgen konnte. Er erinnerte sich, wie gern er eine von ihnen behalten hätte, aber er hatte nicht gewagt, darum zu bitten. Später hatte er sich für dieses Versäumnis die Arme blutig gebissen. Zu diesem Zeitpunkt war er allerdings schon bei Schmitz gewesen. Das, was zählt, ist hier drin , flüsterte Silvie in seinem Ohr. Alles andere ist nicht der Rede wert.
    Verhoeven warf einen flüchtigen Blick auf Grovius’ Uhr, die er seit ein paar Tagen trug, und blinzelte hinauf in den strahlend blauen Himmel. Durch das spaltbreit geöffnete Autofenster drang Vogelgezwitscher herein. Sie sind nicht alle fort, dachte er. Ein paar sind noch hier. Sie singen, als ob schon wieder Frühling wäre, und picken die Apfelringe aus Ninas Vogelhaus. Der Gedanke hatte etwas so elementar Tröstliches, dass er sich zwingen musste, seine Aufmerksamkeit wieder auf die Trauergesellschaft zu konzentrieren.
    Neben ihm stieß Winnie Heller einen entnervten Seufzer aus. »Scheiße, ich komme mir vor wie ein Leichenfledderer«, murmelte sie, während sie den stämmigen Rücken von Monika Gerling durch ihren Feldstecher musterte. »Das, was wir hier tun, ist irgendwie indiskret.«
    »Es gehört zu unserem Job«, entgegnete Verhoeven achselzuckend.
    Sie reagierte nicht, sondern hielt das Fernglas an die Augen gedrückt. Die schwarzen Ringe unter ihren Augen wurden mit jedem Tag tiefer, und sie wirkte erschöpft und irgendwie auch traurig. Verhoeven überlegte, ob er sie nach dem Grund fragen sollte, aber er war sich nicht sicher, wie sie darauf reagieren würde.
    »Sie wollen sie loswerden?«, hatte Hinnrichs gefragt, als er ihm am Morgen in seinem Büro gegenübergesessen hatte.
    »Nein«, hatte er geantwortet, und er hatte es tatsächlich ernst gemeint. Er wollte sie nicht loswerden. Sie war eine begabte junge Polizistin. »Aber sie verdient jemanden, der ihre Talente erkennt und zu fördern weiß. Jemanden, der Erfahrung hat.«
    Hinnrichs’ stahlblaue Augen hatten über den Rand seiner Brille geblickt. »Sie meinen jemanden wie Grovius?«
    Da war

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