Der bewaffnete Freund
heute sind seine Grenzen. Jedes Jahr krepieren Tausende beim Versuch, sie zu überqueren, und das Einzige, was euch einfällt, sind neue Grenzen.«
»Wieso sollten wir neue Grenzen wollen?«
»Ihr wollt einen Staat.«
»Ich weiß gar nicht, ob wir einen Staat wollen. Wir wollen eine andere Gesellschaft.«
Der Motor läuft brummend. Ein einschläfernder Ton.
»Ich verstehe euch nicht. So viele Jahre, die ich mit dir befreundet bin, und ich verstehe euch immer noch nicht.«
»Was sollen wir deiner Meinung nach machen?« Er klingt, als kenne er die Antwort selbst nicht. »Nach Hause gehen? Obwohl die Demokratisierung nach Franco eine Farce war, und wir sechshundert Leute im Knast sitzen haben?«
»Nein«, sage ich.
»Nein?«
»Nein. Aber es ist auch keine Perspektive, einfach weiterzumachen.«
»Ja«, stimmt er mir zu.
»Und?«
»Mal schauen.«
Und wieder verfallen wir in Schweigen.
Als ich mit Zubieta von Manaus nach Boa Vista fuhr, brauchten wir für die siebenhundert Kilometer Entfernung mehr als 24 Stunden. Ein mit Baumaschinen beladener LKW war nachts im Schlamm stecken geblieben. Die indianische Bevölkerung der Gegend, ziemlich genau auf halbem Weg zwischen den beiden Städten, hatte sich einst dem Straßenbau widersetzt und eine Asphaltierung verhindert. Ihr Verhalten hatte sich schon bald als ausgesprochen weitsichtig erwiesen, denn während die Rinderfarmer überall entlang der Straße den Wald illegal rodeten, blieb dieses Teilstück einigermaßen intakt. Und so verkeilten sich die Trucks, die Fertigprodukte nach Amazonien hinein- und Holz und Fleisch hinaustransportierten, auf der vielleicht hundertfünfzig Kilometer langen Strecke, einer auf einem Damm verlaufenden Erdpiste, immer wieder metertief im Lehmboden.
Wir standen mit unserem Fahrzeug in einer endlos langen Schlange. Eine schweißtreibende Nacht: Neben der Erdtrasse, einem schmalen Streifen im Wald, zeichneten sich Wasserläufe, Baumriesen, Schilfpflanzen ab. Es roch nach Feuchtigkeit, Blüten, Lehmerde; die Schreie von Kröten erfüllten die Nacht. Und für ein paar Stunden war völlig unklar, wie lange wir dort eingekeilt zwischen Tanklastzügen und Überlandbussen würden warten müssen. Es gab keinen Straßendienst, der liegen gebliebene Fahrzeuge eingesammelt hätte, keine Anwohner, die uns mit einer Planierraupe einen Ausweichweg hätten ebnen können, keine Ortschaft, in der man sich mit Lebensmitteln eindecken oder auch nur eine kalte Dusche hätte nehmen können. Und so diskutierten die Wartenden. Ein paar LKW-Fahrer behaupteten, mit einigen Spatenstichen werde man die mannshohen Truckräder schon freischaufeln können, andere berichteten, wie sie an der gleichen Stelle eine ganze Woche gestanden hatten. Die Vorstellung machte mich wahnsinnig. Ich ertrage es nicht zu warten, und hier ging es nicht um zwei oder drei Stunden, sondern um mehrere Tage unter miserabelsten Bedingungen. Meine Beine schwollen bei der Hitze an, weil man sie im Jeep nicht hochlegen konnte, die Kleider waren, unmittelbar nachdem der Fahrtwind ausgesetzt hatte, an der Haut festgeklebt, es juckte mich am ganzen Körper, und zu allem Überfluss waren auch noch unzählige Insekten aufgetaucht, die uns um den Kopf schwirrten.
Während ich immer nervöser und ungehaltener wurde, unterhielt sich Zubieta gelassen mit den Truckfahrern. Für ihn schien das Warten nicht weiter dramatisch zu sein. Die Katastrophen in seinem Leben hatten anders ausgesehen. Irgendwann kamen wir schließlich auf den verhinderten Ausbau der Straße zu sprechen, und ich beklagte mich vorsichtig.
»Warum«, erwiderte Zubieta, »muss es so eine Straße überhaupt geben?«
In gewisser Weise steckte darin die Frage, um die es immer wieder geht: Was macht man, wenn an einem Ort, einem geografischen oder kulturellen, eine Art zu leben existiert, die man mag? Die einem besser, freier, erstrebenswerter erscheint als das, was im allgemeinen Fortschritt genannt wird? Kann man den Versuch, eine solche Form des Andersseins zu verteidigen, wirklich als Ausdruck identitären Wahns abtun, wie Rabbee es machen würde? Führt der Weg der Emanzipation wirklich immer in die Zukunft? Oder manchmal nicht eher in die Vergangenheit – beziehungsweise weder in die eine noch in die andere Richtung?
Barcelona taucht auf und verschwindet wieder. Wir lassen die Stadt links liegen. Beim Anblick von Polizeifahrzeugen, die immer mal wieder auf Parkplätzen stehen und LKW-Fahrer oder marokkanische
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