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Der bewaffnete Freund

Der bewaffnete Freund

Titel: Der bewaffnete Freund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raul Zelik
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höre ich die Grillen zirpen.
     
    Ich muss fast fünf Kilometer gehen, ziemlich genau eine Stunde Fußmarsch, bis ich eine Tankstelle erreiche, die Wagenheber verkauft. Um keine Spuren zu hinterlassen, zahle ich nicht mit der Karte, sondern bar. Unmittelbar nachdem ich mich auf den Rückweg gemacht habe, treffe ich auf ein ausländisches Ehepaar, das vor einem Café am Auto steht und eine Straßenkarte studiert. Obwohl die beiden mögliche Zeugen sind, sie mich später identifizieren könnten, klage ich ihnen mein Leid und finde ein offenes Ohr. Das Paar, zwei ältere Belgier, wollen weit hinunter nach Süden, an die Costa Blanca, wo sie ein Ferienhaus besitzen und mindestens die Hälfte des Jahres verbringen. Spanien, so sagen sie, sei für sie der Inbegriff von Ruhe und Erholung, von Frieden, Gastfreundschaft, Gelassenheit, und so kommen wir, fast unvermeidlich, auf das Unvermeidliche zu sprechen. Niemals, meinen die beiden, hätten sie gedacht, dass etwas so Fürchterliches wie der 11. März 2004 hier geschehen könnte, die Anschläge von Madrid, dieses Elend, dieses grenzenlose Leid, der sinnlose Terror. »Die Spanier sind doch gegenüber allen Völkern der Welt immer offen und liebenswürdig gewesen. Wie konnte man ihnen das nur antun?«
    Nickend stimme ich dem Ehepaar zu.
    Sie fahren mich zurück zur Autobahn, im Wagen sind es nur wenige Minuten. An der Pannenstelle, der Belgier bringt seinen Wagen ein Stück hinter meinem Renault zum Stehen, bieten mir die beiden an, bei der Reparatur zu helfen, doch weil ich fürchte, dass Zubieta aus dem Gebüsch kommen und auch sein Gesicht sich den Fremden einprägen könnte, lehne ich ab. Der Rest sei kein Problem, erkläre ich, mir habe nur das nötige Werkzeug gefehlt, und nach einigem Hin und Her gelingt es mir tatsächlich, die hilfsbereiten Rentner zum Weiterfahren zu überreden. Schnell reiht sich ihr Wagen wieder in den Verkehr ein, schon bald ist das Dach des blauen Toyota nicht mehr in der Fahrzeugkolonne zu erkennen.
    Hektisch wechsele ich nun den Hinterreifen, und zu meiner Überraschung lässt sich Zubieta auch jetzt noch nicht blicken. Obwohl ich es noch vor wenigen Sekunden als unvernünftig empfunden hätte, wenn er am Wagen erschienen wäre, bereitet mir seine Abwesenheit jetzt sofort Sorgen. Ich verstaue das Werkzeug und den platten Reifen im Kofferraum, verschließe die Autotüren und gehe den Freund suchen, innerlich auf das Schlimmste vorbereitet, eine Festnahme oder sein Verschwinden. Doch als ich durch das Gebüsch und einen kaputten Zaun in die Obstplantage gestiegen und ein paar Schritte gegangen bin, entdecke ich ihn unter einem Pfirsichbaum liegen. Er raucht.
    »Alles okay?«, frage ich.
    »So ein Schwachsinn. Wenn mich jemand auf dem Privatgrundstück hier gesehen hätte, wäre das viel auffälliger gewesen als oben beim Auto.«
    Ich antworte nicht.
    Wortlos kehren wir zum Wagen zurück, verlassen den Standstreifen, setzen unsere Fahrt Richtung Süden fort. Die Digitaluhr zeigt 15:06 Uhr.
    Langsam taucht die Nachmittagssonne die vertrocknete Landschaft in milderes Licht. Schon bald, überlege ich, müssten sich die Vororte Barcelonas vor uns abzeichnen.
     
    Wieder fliegen in den Augenwinkeln, zu kurz für eine bewusste Wahrnehmung, die bekannten Objekte vorbei: Leitplanken, Straßenschilder, eine Brücke, Tankstellenzu- und -ausfahrten, Einkaufsmärkte, Feriensiedlungen. Das Gefühl, sich in einem Loop zu befinden, immer wieder eine identische Situation zu erleben.
    Auf der gleichen Konferenz, auf der er über die Fischerboote der Costa del Sol sprach, behauptete Rabbees Kumpel Mark, die gesamte Mittelmeerküste bestehe nur aus mit Schwarzgeld finanzierten Apartment-Konglomeraten: seelenlos, zehn Monate im Jahr leer stehend, von eben jenen Einwanderern erbaut, die man ansonsten vor der Küste ertrinken lässt. Jetzt geht mir plötzlich Rabbees Frage durch den Kopf, warum man in einer solchen Situation über die Unabhängigkeit einer Region sprechen muss anstatt über Flüchtlingsboote, anstatt über die vor den Stacheldrahtverhauen von Ceuta und Melilla wartenden Afrikaner oder die bemerkenswerte Tatsache, dass das ganze europäische Wirtschaftsmodell auf diesem Einschluss von Ausgeschlossenen beruht. Wären diese Leute nicht illegal, das heißt rechtlos und unterbezahlt, würden sich weder die Feriensiedlungen noch die Obst- und Gemüseplantagen rechnen.
    Gereizt blicke ich Zubieta an. »Findest du das nicht absurd? Das Ekelhafteste an Europa

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