Der bewaffnete Freund
Gastarbeiter kontrollieren, zucke ich jedes Mal zusammen.
Doch die Fahrt verläuft ohne Schwierigkeiten.
Als wir Tarragona erreichen, eine Raffinerie vor uns am Küstenstreifen, ziehe ich eine CD aus dem Handschuhfach. Zufällig fällt meine Wahl auf das Album von Ruper Ordorika, das ich bei Montserrat ausgeliehen und die Tage im Auto gehört habe. Ich suche Lagun Erratuena, das Lied der verloren gegangenen, herumirrenden Freunde.
»Wie siehst du den Text?«, frage ich.
»Was meinst du?«, antwortet Zubieta.
»Das bezieht sich doch auf euch: Namenlose Freunde / die so viel gegeben haben. Die ohne Vorteil / so viel aufgegeben haben. / Was verändert sich / die Welt oder man selbst, der Verstand oder die Begierde? / Fühlen sie sich abends schuldig / oder nicht?«
»Ist mir noch gar nicht aufgefallen.«
»Auf wen soll das sonst gemünzt sein? … Komm, lass uns unter Palmen gehen / jenseits des einen Quadratmeter Traurigkeit.«
»Stimmt, könnte sein.«
»Ich denke, du interessierst dich für Literatur. Das muss dir doch auffallen.«
»Daran siehst du«, er lacht, »dass mein Talent nicht so groß war.«
Am Ende des Lieds hört man eine Kuhglocke – sofort habe ich das Bauernhaus von Montserrats Familie vor Augen. Seltsame Assoziation: Untergrund und Alpenidyll, ein flüchtiger Schriftsteller, Kühe auf Bergwiesen.
»Und fühlst du dich schuldig?«, hake ich nach.
»Sollte ich?«
»Solltest du nicht?«
»Manches war …«, er sucht nach einem passenden Wort und landet schließlich beim neutralen doloroso, »… schmerzlich. Vielleicht sogar vermeidbar. Aber es wäre noch schrecklicher gewesen, nichts zu tun. Ohne unsere Gewalt gäbe es nur ihre Gewalt. Und das heißt: noch weniger Gerechtigkeit.«
Ich antworte nicht. Weil ich weiß, dass an dem Gedanken mehr dran ist, als mir recht sein kann.
An einem Ferienort lotst mich Zubieta von der Autobahn herunter.
Wir rollen auf einen riesigen Block mit Ferienwohnungen zu. Zwanzigstöckige Gebäude mit jeweils vier Aufgängen, vor den meisten Fenstern sind die Rollläden heruntergelassen.
»Das letzte Stück kann ich gehen«, sagt Zubieta. »Es ist besser, wenn du mich nicht bis vor die Haustür fährst.«
Ich weiß nicht, ob ich die genaue Adresse nicht wissen soll oder ob er mich schützen will.
An einer Bushaltestelle bringe ich den Wagen zum Stehen. Zubieta sammelt seine Sachen ein und stopft sie sich in die Reisetasche. Ich halte ihm Montserrats CD hin.
»Falls du Heimweh hast«, sage ich. »Ich kauf eine neue.«
Wir lächeln uns an, ich hänge plötzlich sehr an ihm.
»Was hast du hier vor?«, schiebe ich hinterher.
Er zuckt mit den Achseln.
»Ist doch nur eine Frage der Zeit, bis sie dich finden«, füge ich hinzu.
»Ich werde nicht lang bleiben.«
»Soll ich dich in ein paar Tagen zurückfahren?«, frage ich.
»Ich hab’ was Besseres vor.«
»Du willst weiter?«
»Ich muss ganz nach Süden.«
»Das zweite Stück«, meine Stimme klingt entschlossener, als ich das möchte, »fahre ich dich auch.«
XV
Noch auf dem Rückweg von einer Raststätte zu Hause angerufen. Hanna versprochen, sie im Oktober zu besuchen, Rabbee erzählt, dass es mir gut geht.
»Ich habe heute einen Ausflug nach Barcelona gemacht. Spontan einen Nachmittag am Meer verbracht und Fisch gegessen.«
Dass ich mit diesen Telefonaten eine Spur gelegt habe, die sich verfolgen lässt, war mir egal.
Den Ebro hinauf, einen letzten rosafarbenen Streifen Himmel vor Augen, durch Pfirsichplantagen und Weingärten hindurch, an abgeernteten Getreidefeldern vorbei. Wie weit der Horizont ist, habe ich gedacht, wie weit der Blick schweifen kann.
Selten ist das Leben so von Glück erfüllt wie in den Augenblicken, in denen die Angst nachlässt.
Zweimal auf eine Raststätte gefahren. Bei den Fahrzeugen, die hinter mir die Autobahn verließen, darauf geachtet, ob sie an die Zapfsäule rollten oder scheinbar grundlos auf dem Parkplatz stehen blieben, ihre aussteigenden Insassen beobachtet. Als Pärchen können sich Polizisten tarnen, aber dass Familien mit kleinen Kindern zur Beschattung eingesetzt werden, ist nach wie vor unwahrscheinlich.
Niemand ist mir gefolgt. Die fünfstündige Fahrt von Barcelona nach Westen verläuft ereignislos, in den Radionachrichten ist weder von der Organisation noch von der Fahndung nach Zubieta die Rede.
Gegen Mitternacht komme ich in X an, parke den Wagen in der Nähe der Wohnung und gehe noch in der Eckkneipe etwas trinken.
Eine
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