Der bewaffnete Freund
Woche später trifft Haberkamm in der Stadt ein, ich hole ihn vom Flughafen ab. Auf dem Weg ins Zentrum erkundigt er sich nach dem Stand meiner Arbeit. Obwohl die Frage zu erwarten war, reagiere ich verunsichert und erzähle irgendetwas von einer geplanten Lehrveranstaltung und den neuen Autonomieverhandlungen zwischen Madrid und den Regionen. Es kann dem Professor nicht entgehen, dass ich einen Monat nach meiner Ankunft nichts vorzuweisen habe, was meinen Aufenthalt in der Stadt rechtfertigen würde. Trotzdem lächelt er die ganze Fahrt über freundlich.
Salvatore hat uns zum Essen eingeladen, wir treffen ihn in der Nähe des neuen Kongresszentrums. Wieder gehen wir Fisch essen, wieder setzen wir uns, während die Leibwächter vor der Tür in Stellung gehen, an einen Tisch in der Nähe des Fensters. Der spanische Professor erzählt von einer Demonstration am Wochenende, mehr als eine Million Menschen hätten in der Hauptstadt gegen Friedensverhandlungen mit der Bande demonstriert. Niemals, so Salvatore, würde die spanische Gesellschaft akzeptieren, mit Mördern zusammenzuleben. Ich möchte anmerken, dass man in diesem Land doch seit Jahrzehnten bestens mit den Mördern zusammenlebe, sie hätten im Wesentlichen dort weitergemacht, wo sie vor 1976 angefangen hatten. Aber ich weiß, dass ich es mir in Haberkamms Anwesenheit nicht leisten kann, einen Streit anzuzetteln.
Salvatore fordert mich auf, mit ihm auf den antifaschistischen Geist der Demonstration anzustoßen. »Sicher, die meisten Demonstranten sind ranzige Konservative. Aber immerhin knicken sie vor dem Ethno-Faschismus nicht ein. Das muss man ihnen anrechnen.«
Er provoziert mich. Ich übersetze für Haberkamm.
»Ja, aus Sicht der Terroropfer«, antwortet der Professor aus Deutschland, »ist die Vergebung, die der Rechtsstaat zu gewähren vermag, ein problematisches Feld. Wir haben diese schmerzliche Erfahrung, sicherlich in viel geringerem Maß als ihr, nach 1977 auch machen müssen.«
Erneut übersetze ich, auf den leicht gestelzten Stil Haberkamms achtend.
»Und nach dem Nationalsozialismus«, fügt der Deutsche hinzu.
Ich zögere einen Augenblick. Das kann er nicht ernst meinen, denke ich, die NS-Opfer und die spanischen Demonstranten vom Wochenende in eine Reihe zu stellen. Doch genau so meint er es.
»Mit dem nationalen Wahn«, bekräftigt Salvatore gut gelaunt, »gibt es keine Versöhnung.«
Ich versuche zu übersetzen, ohne zuzuhören. Zwischen mir und den beiden Professoren hat sich längst jenes Unverständnis breit gemacht, das für das Leben in X so charakteristisch ist. Es gibt keine Verbindungslinien zwischen den Realitäten, keine gemeinsame Grundlage, keine Sprache. Aneinander vorbeizureden ist die einzige Zweisprachigkeit, die hier wirklich praktiziert wird.
Erst die Fischsuppe beschert uns wieder ein Thema, über das sich gemeinsam reden lässt. Haberkamm und Salvatore diskutieren den Rückgang der Kabeljaubestände. Der spanische Philosoph scheint sich bei dem Thema, wie bei allen gastronomischen Sujets, hervorragend auszukeimen. Mir fehlen Fachbegriffe und die Namen von Fischarten, und doch fühle ich mich bei der Übersetzung deutlich sicherer als zuvor.
Nach dem Espresso verabschiedet Salvatore sich hastig, er muss zu einer Konferenz nach Italien und hat einen Flug zu erwischen. Ich bringe Haberkamm ins Hotel, wir gehen ein paar Blocks zu Fuß. Der Himmel über X ist leicht bewölkt, spürbar herbstlich. Die neuen Straßenbahnen gleiten auf dem Weg Richtung Hotel an uns vorbei.
»Eine aufgeräumte Stadt«, sagt der Professor.
Ein bisschen Disney-Land, denke ich, umstrukturiert. Seines explosiven Charakters entledigt. X war früher eine kämpferische Stadt, vielleicht die kämpferischste Europas. Heute ist sie ein nettes, kleines Ausflugsziel, steril und bedeutungslos.
»Da haben Sie sich etwas Schönes ausgesucht.«
»Etwas sehr Schönes«, bestätige ich verkrampft.
»Genießen Sie die Zeit. Wer weiß, wann Sie wieder so eine tolle Chance haben werden.«
Ich nicke. »Eine Chance, die ich ohne Sie nie gehabt hätte.«
Die Chance, bei einem Freundschaftsdienst verhaftet zu werden und fünf oder sechs Jahre im Gefängnis zu sitzen. In einem Wagen zwischen katalanischer Mittelmeerküste und der Meseta auf der Straße gestellt und erschossen zu werden. Mit etwas Glück vom Schlimmsten verschont zu bleiben.
Dem Schlimmsten:
Der Plastiktüte. Den Elektroden. Der Badewanne.
Vor dem Hoteleingang patscht mir der
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